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Massenmord leicht erklärt

Solingen, Hanau, München: Der gemeinsame Nenner heißt nicht Migration, sondern – junge Männer. Ein Comic zeigt jetzt die Gründe besser als jeder Soziologe

Illustration: Gipi - avant-verlag

Okay, Solingen. Was ist die Ursache?

Messer? Nein. Ohne Messer nimmt man halt was anderes.

Migranten? Damit ignoriert man München 2016 oder Hanau 2020. Den Toten ist aber wurscht, ob man sie völkisch oder islamistisch umgebracht hat. Was hingegen haben alle ähnlichen Taten gemein? Die Täter sind junge oder halbjunge Männer. Stimmt das? Oh ja: Wie viele vergleichbare Taten kennen wir von Frauen um die 50? *

Na also. Erfreulicher Weise erscheint zur Tätergruppe passend grad ein irrsinnig guter Comic.   


Faszinierend, abstoßend, trostlos


Der Band heißt „Geschichten aus der Provinz“, ist vom ausgezeichneten Gipi und besteht zum größten Teil aus der Parabel „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“. Diese Parabel enthält so gut wie alles, was man über junge Männer wissen muss. Und das Beste: Sie ist faszinierend, zugänglich, abstoßend und trostlos zugleich.

Illustration: Gipi - avant-verlag

Es ist Krieg, irgendwo in Europa. Die Orte klingen italienisch, was 2004, als die Story entstand, noch genauso absurd war wie ukrainisch. Christian, Giuliano und Stefano sind von zuhause abgehauen. Drei Jungs zwischen 16 und 18, mit Schnurrbartversuchen auf der Oberlippe. Sie wissen nicht mal, was man am besten klaut, schlagen sich von Unterkunft zu Unterkunft durch, und ihr größtes Glück seit langem ist, dass sie ein unzerstörtes einsames Haus finden. Am nächsten Morgen erscheint die „Miliz“, um das Haus zu sprengen. Wer zusieht, wie verzweifelt der Waise Christian dieses Haus zu retten versucht, weiß danach alles über Christians Träume, seine Sehnsüchte.


Hündische Loyalität als Dank für Fake-Respekt


Was macht man, wenn alles unsicher ist? Man sucht Sicherheit: Das Trio schlägt sich durch zum örtlichen Milizführer Felix, der in einer leeren Discothek Hof hält. Der coole Macho Felix durchschaut die drei so schnell, dass man ahnt, dass es zu seiner Jobbeschreibung gehört: Christian und Giuliano dürfen mitkommen, aber Stefano, den kleinsten und zähesten von allen, wird er zum Chef der Dreiertruppe machen. Stefano wird etwas bekommen, das er für Respekt und Anerkennung hält. Und er wird beides mit bedingungsloser, fast hündischer Loyalität zurückzahlen. Zu dritt werden sie Laufburschen, Geldeintreiber, Kindersoldaten.

Illustration: Gipi - avant-verlag

So nachvollziehbar kann das kein Soziologe oder Terror-Experte schildern: Giuliano, Sohn reicher Eltern, gewinnt Freunde. Christian gewinnt Geborgenheit. Stefano gewinnt eine Perspektive: Er kann organisieren, anführen. Und all das ernten die drei Jungs in einer Welt voller Trostlosigkeit, Zerstörung, Gleichgültigkeit. Gipis Kriegslandschaft unterstützt dies kongenial: So lieblos hat man Italien selten gesehen, voller leerstehender, zerbombter Industriebauten, schneisenartiger Straßen und Autobahnen, Gipi findet immer wieder Landschaften und Stadtansichten von beeindruckender Hässlichkeit. Und genau diese Kälte lässt die menschlichen Beziehungen, die Freundschaften und die Felixe, so verlockend warm wirken. Die zusätzliche Kälte des Kriegs verstärkt das.

Was uns wieder zu Solingen bringt.


Der bessere Ansatz


Es stimmt, Solingen ist kein Kriegsgebiet. Aber all diese jungen Massenmörder fanden und erhofften bei und von felixartigen Figuren und Organisationen Geborgenheit, Anerkennung, Respekt, Freundschaft, Perspektive, Aufmerksamkeit. Manche treffen ihren Felix noch analog, vielen genügt längst das Internet. Wer hier ansetzt, handelt sinnvoll, wer sich dagegen auf Messer oder Migration versteift, ändert nur die Todesart der Opfer oder die ethnische Zugehörigkeit der Täter (was übrigens nicht ausschließt, bei großen Feiern die Leute mal auf Messer etc. zu kontrollieren). Wie sollte dieser Ansatz dann aussehen?

Illustration: Gipi - avant-verlag

Na, wie wohl? Man muss betreuen, ausbilden, bis ihnen die Integration und/oder Fort-/Ausbildung aus den Ohren kommt. Das ist teuer, aber es rettet Leben und bringt langfristig eine bessere Rendite: Lohnsteuer statt Mehrfachmörder. Und wer dann trotz viel, viel staatlichem Aufwand nicht mitspielt, den darf der Staat auch hart anpacken.

Was übrigens auch für den NSU und ähnlich Verwahrloste gilt: Von Nazis ermordet werden ist keinen Deut besser. Warum schickt man diese Gestalten eigentlich nicht genauso nach Afghanistan?


Rarität in neuem Gewand


So, genug ausgekotzt. Schön ist, dass Gipis Story gerade jetzt wieder auf den Markt kommt. Der Verlag hat noch vier exzellente Geschichten dazu gepackt (zwei bisher unveröffentlicht). Aber wie dringend fällig die Neuauflage war, kann man mit einem Blick in den gedruckten „Comicverführer“ sehen: Damals musste ich die Story noch zu den Outtakes packen, weil man sie nicht einmal mehr gebraucht kaufen konnte.

 


* Muss man den Text wegen Siegen umschreiben? Oder wenn ein 90-jähriger Schwede mit Sprachfehler Amok läuft? Ich denke: nein. Denn die ganz normalen Standard-Irren, die bleiben jeder Gesellschaft erhalten. Und auf die muss man so oder so gesondert aufpassen.



Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:






 


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