Jacques Tardi beendet mit Teil 3 die Erinnerungen seines Vaters: Sie liefert neben Details aus einem vernachlässigten Kapitel des Krieges vor allem eine Erkenntnis
Ehrlich gesagt: Ich war zunächst etwas enttäuscht. Jacques Tardi hat jetzt seine „Stalag IIB“-Trilogie abgeschlossen, und ich hatte mir mehr versprochen. Da bin ich aber auch selbst schuld: Ich war so überrascht von den ersten beiden Bänden, weil ich mit Tardi nicht so recht warm werde.
Extrem unaufgeregt, wohltuend sachlich
Dabei ist seine Herangehensweise im Prinzip sehr sympathisch – dezent, unprätentiös, nüchtern, geradezu wohltuend sachlich. Farben sind Raritäten, meist zeichnet er auch noch in schwarz-weiß, die Figuren sind meist statisch und (bis auf die Hauptcharaktere) mitunter kaum zu unterscheiden. Deshalb gucke ich jedes Mal bei Tardi zuerst, als käme ich hungrig ins Lokal und es gibt nur noch Käsebrot.
Aber ich unterschätze ihn immer wieder. Tardi zeichnet vor allem: extrem unaufgeregt. Es ist kein Zufall, dass er dem tiefenentspannten, pfeiferauchenden Detektiv Nestor Burma den idealen Look verliehen hat. Die Geschichte von „Stalag IIB“ ist eine ähnlich gute Wahl.
Tardi schildert die Erinnerungen seines Vaters René aus dem zweiten Weltkrieg. Methodisch, noch nüchterner als sonst, jede Seite hat drei gleich große, seitenbreite Panels, macht sechs pro Doppelseite. Diese Erinnerungen sind auch deshalb ungewöhnlich, weil sie nicht erzählen, wie einer fünf Jahre lang durch den Dreck robbt. Sondern von einem, der nach dem ersten deutschen Blitzkrieg gefangengenommen wurde – und gefangen blieb.
Die ersehnte Flucht findet nie statt
Denn obwohl Tardi sich selbst als zuhörenden Buben dazu zeichnet, der alles kommentiert und stets auf Papas grandiose Flucht wartet, findet diese Flucht nie statt. Die wenigsten Menschen sind fliehende Helden, und Papa Tardi war offenbar ein normaler Mann.
Umso gründlicher schildert Tardi die Eintönigkeit der Gefangenschaft.
Das graue Lager, das Essenholen, den Hunger, das Auswiegen der Brotscheiben. Die bizarre Hierarchie der Kriegsgefangenschaft: Sie werden werden nur gut behandelt, damit ihre Heimatländer ihrerseits deutsche Kriegsgefangene gut behandeln. Entsprechend schlecht stehen die Franzosen da, die keine Deutschen mehr als Faustpfand halten und Milde nur im angloamerikanischen Windschatten erwarten können.
Wie Ohrfeigen aus dem Nichts
In absurd realistischen Details zeigt Tardi, wie daraufhin Menschen in solchen Zeiten ihre Macht ausleben: Wenn in der Poststelle des Stalag ein deutscher „Dreckskerl“ die Lebensmittelpakete prüft, „machte er sich einen Spaß daraus, alles zusammenzuschütten – Leberpastete, Marmelade, Margarine und Würste.“ Keine deutsche Exklusivität übrigens, mit Sieg und Macht kommt die Verrohung auf allen Seiten so sicher wie das Amen in der Kirche, und Tardi serviert sie immer wieder hart und schnell, wie Ohrfeigen aus dem Nichts.
Französische SS-Männer verteidigen Berlin
Die französische Perspektive macht das Projekt zusätzlich interessanter, denn in der vier Jahre dauernden deutschen Besetzung ist Frankreich ja nicht nur misshandelt worden, es hat sich auch vier Jahre lang arrangiert, teilweise sehr bereitwillig. Tatsächlich gibt es sogar eine französische SS-Division („Charlemagne“), und es sind irritierenderweise sogar eben diese SS-Franzosen, die bis in die letzten Kriegstage hinein Berlin (!) verteidigen.
Band 2 widmet sich der Heimreise ähnlich schonungslos: Die verbliebenen Bewacher werden aufgehängt, und die neuen Verhältnisse machen auch die Sieger nicht zu besseren Menschen. US-Truckfahrer, bei denen Vater Tardi mitfährt, brettern deutsche Fußgänger absichtlich um. René schildert es achselzuckend: Es ist Krieg, was habt ihr erwartet? Ritterlichkeit? Band 3 konzentriert sich nun auf die Nachkriegszeit, in der Vater Tardi als Besatzer in Deutschland arbeitete.
Häme von den Vätern – und den Deutschen
Gerade hier wird eine weitere Facette der französischen Kriegsverarbeitung deutlich: Die Deutschen verachten die französischen Besatzungstruppen als Besatzer, die das Besetzen nicht verdienen, die ohne die USA nichts geschafft hätten. Und sie ernten damit perfiderweise genau jene Häme, die sie zuhause von der Großvatergeneration bekommen.
Sie sind die Verlierer des Blitzkriegs, während ihre Väter auf ihren siegreichen Widerstand im Ersten Weltkrieg verweisen. Ziemlich viele eigene Kindheitserinnerungen sind Tardi da reingerutscht, man kann auch quengeln, dass er Platz mit historischen Daten füllt, die – wie die Atombombe von Hiroshima – hier nicht wirklich entscheidend sind. Dennoch ist das Projekt beispielhaft, aus einem weiteren Grund.
Tardi entdeckt immer wieder Widersprüche
Tardis Vater starb in den 1980ern. Dies ist auch ein Versuch, den eigenen Vater zu verstehen. Tardi rekonstruiert die Geschichte mit dessen Aufzeichnungen und stößt auf ein Problem: Immer wieder ergeben sich Widersprüche. Vieles ergibt plötzlich keinen Sinn mehr. Zeugen gibt es nicht mehr. Man hätte früher fragen müssen, mehr und öfter nachbohren, aber nachholen lässt es sich nicht mehr. Und wer jetzt meint, das wäre keine besondere Erkenntnis, dem sei versichert: Auch wenn es nicht um Kriegserinnerungen geht, wird der Tag kommen, an dem man sich vorwirft, man hätte nicht genug nachgefragt. Dagegen hilft nur eins: Losziehen und jedes Familienmitglied löchern, das älter ist als man selbst.
Ja, Sie sind gemeint!
Und keine Zurückhaltung bitte. Jede Frage, die Sie weglassen, werden Sie später bereuen.
Jacques Tardi, Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB, Edition Moderne, Band 1-3, je 32 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Der neue Band von Emmanuel Guibert bestätigt: In Sachen Aquarell kann ihm derzeit kaum jemand das Wasser reichen. Doch der Franzose offenbart Schwächen
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, und das ist eines der Hauptprobleme im Comic. Was von der Handlung soll man zeichnen, was davon soll man schreiben? Und was soll man schreiben, wenn man bereits im Bild so viel mehr mitgeteilt hat? Das bringt uns zum erstaunlichen Emmanuel Guibert und seinem neuen Band „Martha & Alan“.
Nahe am Fotorealismus
Guibert ist ein französischer Zeichner, Aquarellist und Tuschist (sagt man Tuschist? Tuscheur?). Gestartet hat er seine Karriere Mitte der 90er im Pariser Studio „Atelier des Vosges“, einem Talentschuppen, in dem sich damals so ziemlich alle über den Weg gelaufen sein müssen, die heute Rang und Namen haben. Mit Joann Sfar etwa zeichnete Guibert den Band „Die Tochter des Professors“ und die satirische Serie „Sardine de l’Espace“ (zu deutsch etwa: Weltraumsardine). Einen internationalen Namen machte er sich allerdings mit seinen dokumentarischen Comics und seiner beeindruckenden Fähigkeit, Szenen und Stimmungen nahe am Fotorealismus zu produzieren.
Erstmals führte er das in Deutschland in dem Band „Alans Krieg“ vor, 2012. Der beruht auf den Erinnerungen des Ex-GI Alan Cope, den Guibert kennen und dessen Geschichten er lieben gelernt hat. Cope erzählte dem 39 Jahre jüngeren Guibert von seinen praktisch kampflosen Erlebnissen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, Guibert machte aus diesen Erinnerungen für den Leser eine magisch-nostalgische, schwarz-weiß-graue Zeitreise (wie er das macht, mit viel Wasser und ein bisschen Schwarz, das sehen Sie hier).
Die Figuren darin bewahren noch einen Hauch Naivität, erinnern ein bisschen an Hergés „Tim und Struppi“ oder an Walter Triers Illustrationen für Erich Kästner. Doch die Szenen, die Hintergründe lassen einen ein ums andere Mal rätseln, ob Guibert da nicht einfach ein altes Foto einkopiert hat. Hat er aber nicht.
Unschärfe macht authentisch
Guibert zeichnet Straßen, Kriegsgerät, Tennisplätze, Städteansichten, den Lichteinfall auf den US-Militärhelmen, Meereswellen, alles leicht verblasst, zart verwischt, aber gerade dadurch so authentisch, als befände man sich mitten in einer alten Wochenschau. Kurzsichtige Menschen kennen das Phänomen von verpixelten Bildern oder Gesichtern: Ohne Brille sieht für Kurzsichtige der verpixelte Teil genauso unscharf aus wie der unverpixelte – und damit aber auch genauso realistisch. Guibert beherrscht diesen Trick mit verblüffender Souveränität. Und wenn ihm die Details fehlen, lässt er seine Figuren einfach durchs blanke Weiß schweben, und manchmal ersetzt er die Standardansicht durch extremere, weite Blickwinkel, die man weniger von der Wochenschau kennt als vielmehr von der Fotografie und vom Film. Aber erst im Folgeband „Alans Kindheit“ drehte Guibert richtig auf.
Kalifornische Autobahnen im Nachmittagsverkehr legte er ganz groß hin, Wüstenszenen, Strände und immer wieder amerikanische Holzhäuser, bei denen er das Licht so geschickt durch die Baumkronen streut, dass man schlucken muss vor Sehnsucht nach dem Sommer. Und dass man kaum fassen kann, wie Guibert diese Sonnigkeit hinbekommt, obwohl doch auch er für dieses blendende, manchmal gleißende Licht keine größere Helligkeit zur Verfügung hat als das Weiß des Zeichenpapiers. Es hätte einem allerdings zu denken geben können, dass bereits hier die einzelnen Panels deutlich größer waren als in Band 1.
Guibert zeigt: Er kann's auch in Farbe
Der neue und vermutlich letzte Band der Reihe, „Martha & Alan“, besteht nun zum größten Teil aus wunderschönen doppelseitigen Splashes, bei denen Guibert entspannt zeigt, dass er seine Kunst auch in Farbe beherrscht. Es gibt Bäume, Oldtimer, die nachts ihren Scheinwerferkegeln durch die schwarz-kalte Wüste folgen, Familienszenen bei Tisch, Strandspaziergänge, dunkle Kirchturmwendeltreppen und – so einfach kann’s sein – die schlichte Schönheit eines Fensters von innen bei strömendem Regen. Aber alles handwerkliche Geschick kann nicht überdecken, dass Guibert kaum noch erzählenswerte Details aus dem Leben seines amerikanischen Freundes übrig hat.
Und der kann – weil Cope nach fünf Jahren ihrer Bekanntschaft schon 1999 starb – auch keine neuen mehr liefern. Die Jugendliebe zur kleinen Martha endet für beide bereits mit 13 und das auch noch ohne jedes aufwühlende Drama, fast beiläufig. Das zu erzählen ist gewiss eine schöne Geste gegenüber dem verstorbenen Freund, aber dem Leser hätte man, ehrlich gesagt, auch jede andere Geschichte aus dem Kalifornien der 40er Jahre zeichnen können.
Mehr Zeichner als Erzähler
Es ist freilich auch möglich, dass die Geschichten einfach nicht Guiberts Stärke sind, weder beim Auswählen noch beim Erzählen. Im Verlag Reprodukt erscheint beispielsweise seine Serie um den kleinen Esel „Ariol“, für die er nur die Szenarien schreibt und die mit ihren braven Witzen recht deutlich hinter seinen zeichnerischen Fähigkeiten zurückbleibt. Aber soll man schimpfen, nur weil Guibert seine erstaunliche Kunst diesmal nur mit einer sehr dünn ausgewalzten Handlung zusammenfädelt?
Sollen soll man natürlich nichts. Aber man kann es durchaus mal andeuten. Gerade, wenn einer genau diese Bilder zeichnet, die mehr sagen als tausend Worte.
Emmanuel Guibert, Alan & Martha, Edition Moderne, 24 Euro
Emmanuel Guibert, Alans Kindheit, Edition Moderne, 25 Euro
Emmanuel Guibert, Alans Krieg, Edition Moderne, 32 Euro
Emmanuel Guibert, Marc Boutavant, Ariol 1-7, Reprodukt, je 14 Euro.
Emmanuel Guibert, Joan Sfar, Die Tochter des Professors, Bocola, 14,90 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.