Qualitäts-Erotik im Qualitäts-Comic: Zehn Künstler versuchen sich an zehn Szenarios aus Frauenperspektive. Geht die Rechnung auf?

Erotik und Sex und Comic (und Film): ganz schwer. Wobei man da präzisieren muss: An sich ist das Thema unproblematisch. Wurde schon vielfach gezeigt und gemacht, Leute treffen sich, poppen. Problematisch wird’s erst, wenn Sex zur Hauptsache wird. Nein, auch wieder falsch: Porno gibt’s ja genug. Also nochmal: Problematisch wird’s, wenn man allem gerecht werden will, der Geilheit und den Protagonisten dahinter sowie der Leselust und dem Anspruch auf geschicktes Erzählen. Wie der neueste Versuch „Erste Male“ zeigt.
Kopulation mit Vorgeschichte
Die französische Szenaristin Sibylline hat sich zehn zehnseitige erotische Kurzgeschichten (aus Frauenperspektive) ausgedacht und diese von (teils sehr namhaften) Comic-Künstlern wie Dominique Bertail, Alfred oder Cyril Pedrosa umsetzen lassen. Dabei hat sie das Leitmotiv der „ersten Male“ vorgeschaltet, was dazu anhält, nicht nur die Geschichte irgendeiner Kopulation zu erzählen, sondern sich auch mit der Person auseinanderzusetzen, die irgendwas zum ersten Mal tut. Ist das hilfreich?

Einerseits ja: Eine liebevollere Einleitung wird nötig. Aber andererseits geht ja eben um Sex, und der muss dann auch geliefert werden. Hier scheitern fast alle Profis an der Aufgabe, mehr zu produzieren als ästhetisches Porno-Handwerk. Der von Vince umgesetzte Dreier, Bertails Strap-On-Geschichte, fast alle spielen die Einleitung ordentlich durch und danach – illustrieren sie eben. Was soll man schon zeigen außer dem Versprochenen?
Die Klage der Sexpuppe
Zumal auch Sibyllines Vorgaben nicht alle gleichermaßen gut sind. Manche (Dreier, Pornokonsum) gehen eher zielbewusst zum Thema über, und eine Story ist gar vollends absurd: Ein Mann besorgt sich eine Sexpuppe und geht mit ihr ziemlich lieblos um, worüber sich die Puppe in Textkästen beschwert.

Was schon deshalb keinen Sinn ergibt, weil a) ein Toaster sich auch nicht beklagt, dass niemand „bitte“ und „danke“ sagt und b) der Mann sich einer echten Frau gegenüber vermutlich anders benähme, die Einsichten des Wichsgeräts also kaum belastbare Rückschlüsse zulassen. SM-Fans holen Brötchen ja auch nicht mit der Peitsche, sondern mit dem Geldbeutel. Und doch es gibt bei den Geschichten eine interessante Ausnahme. Die liefert Cyril Pedrosa.
Schwungvoll auf den Arsch
Pedrosa hat sich aus Sibyllines Szenarien das Thema BDSM, Unterwerfung genommen. Ein Mann versohlt einer Frau den Arsch. Pedrosas Unterschied zu den anderen Geschichten besteht dabei in drei Entscheidungen: Erstens bleibt er, sobald es zur Sache geht, meist auf dem Gesicht der Frau und eben NICHT auf dem geschlagenen Arsch oder darauf, wie und wo der Mann hinhaut. Zweitens zeigt er die Pose der Frau, auf allen vieren, extrem naturalistisch – und den Mann reduziert er immer mehr zu einem drohend überragenden, schwungvollen schwarzen Schatten.

Damit versucht Pedrosa drittens als Einziger statt dem Sichtbaren vor allem die Idee dahinter zu zeigen, das wirklich Geile am Sex: eben nicht das Rein-Raus, sondern das Empfinden, das Denken, die Situation. Den eigentlichen Verkehr spielt er dann konsequent klein, weil für diese Frau das Szenario, das Drumherum das Sensationelle ist.
Was der Mangasektor besser macht
So, und jetzt wird’s spannend. Geht das Buchkonzept auf? Was war denn überhaupt der Plan? Soll man die Geschichten aufregend finden? Soll man das Variantenangebot mal kennenlernen? Soll man was über die Frauen erfahren? Szenaristin Sibylline sagt: „Das Album wird hoffentlich im Verborgenen gelesen. Allein, zu zweit…“ Also eine Sexanregung und eine Künstlergelegenheit zur Nagel-Probe. Plus: „Wir wollten zeigen, aber auch erzählen…“ Unterm Strich heißt das: Wir wollten alles, aber anspruchsvoll und wussten nicht genau, wo die Priorität liegt. Die Entscheidung wurde der jeweiligen Grafikabteilung und damit dem Zufall überlassen. Genau diese Gemengelage ist es, die das Ergebnis nur teilbefriedigend macht. Und das Wissen, dass der Mangasektor hier eine viel, viel höhere Trefferquote besitzt.

Dort macht man sich (wie hier berichtet) die Gedanken nämlich vorher und liefert dann zielgruppengenau zubereitetes Warten oder Gucken oder Zögern oder Gewissensbisse. Ein Kessel Buntes wie „Erste Male“ ist beim Manga kaum vorstellbar. Andererseits bietet der superprofessionelle Mangamarkt kaum Gelegenheit zu überprüfen, wie sich branchenfremde Spezialisten im Erotiksektor machen. Wer also wissen will, wie sich Dave McKean, Capucine, Jérome d’Aviau, Virginie Augustin, Vince, Rica und Olivier Vatine beim Bumsbebildern in schwarz-weiß bewähren, erhält hier eine so seltene wie sehenswerte Chance.
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Die Outtakes (20): Ein Gruß vom Altmeister, eine Ebbe im Altmärchens und eine Mixtur mit Alt-Dichtung

Abschied mit Frankenstein
Das also ist das Abschiedswerk des 2017 kurz vor Fertigstellung verstorbenen Grusel-Altmeisters Bernie Wrightson: „Frankenstein Alive, Alive!“. Traditionalisten werden sich wohl dran stören, dass das sonst gut verschraubte, klobige Monster diesmal als eine Mischung aus einem sehr verschlankten Swamp Thing und Iron Maidens Maskottchen Eddie daherkommt. Mir ist die Geschichte der weiteren Karriere des Monsters etwas zu rührselig geraten, aber dafür kommt sie recht opulent daher. Wrightson gönnt sich viele Splashes, und die sind nicht nur einfach aufgeblasen, sondern akribisch zugezeichnet, wie sich’s bei Laboratorien und Bibliotheken anbietet. Effektstark ausgeleuchtet, in düsterem schwarz-weiß, das wirkt schon sehr gut, aber der Story des Kurzgrusel-Experte tut der viele Platz nicht gut. Dass die Erzählerrolle mit dem oft wenig eloquenten Monster auch ein bisschen arg gegen den Typ besetzt ist, ist zwar vorlagengetreuer als manche andere Version, macht die Sache nicht unbedingt einfacher. Trotzdem: Atmosphäre satt.
Bilder-Buch
Da hab‘ ich aber mehr erwartet: Rébecca Dautremer hat zuletzt mit einer fantastischen Version von John Steinbecks „Von Mäusen und Menschen“ überzeugt: Sie hat den kompletten Roman illustriert und damit brillant erweitert. Und das erhoffte ich mir auch von „Alice im Wunderland“ – aber diesmal ist’s tatsächlich nur ein bebildertes Buch geworden. Schön bebildert, gewiss, aber eben nur ein bisschen bebildert und, noch viel schader: äußerst konventionell. Während sie in den „Mäusen“ durch eine wahre Bilderflut die Gedankenwelt der Protagonisten frei ausbreitete und zeigte, was ein illustrierter Roman zu leisten imstande ist, sind’s hier erwartbare Illustrationen in einer Bilderebbe. Wer „Alice“ noch nicht im Schrank hat, mag zugreifen, ansonsten entsteht hier leider kein Zusatznutzen.
Mehrdeutig oder orientierungslos?

Ambivalenz ist oft gut. Aber Maren Aminis Berthold-Leibinger-prämiertes Einwanderer-Epos „Ahmadjan und der Wiedehopf“ fabriziert eindeutig so viel des Guten, das geht schon Richtung Orientierungslosigkeit. Ahmadjan (der Vater der Autorin) lernt im Kabul der 70er westliche Lebensart kennen und wandert nach Deutschland aus. In Berlin malt er, entdeckt noch mehr Kunst, all das ist optisch sehr hübsch, karikaturistisch an Sempé angelehnt. Das Problem ist hier schon der Humor, der so niedlich-lieb und schmerzfrei ist, dass er praktisch nicht mehr stattfindet. Was fatal ist, sobald Ahmadjan ausgewiesen und nach Afghanistan zurückgeschickt wird: Amiri schafft es nicht, den harmlosen Tonfall der verfinsterten Story anzupassen, und das beeinträchtigt Pointen und Betroffenheit zugleich. Alles mit einer alten persischen Dichtung zu überlagern/unterfüttern macht den Stoff zudem nicht beherrschbarer. Das Resultat: Viel Gutgemeintes, immerhin sehr oft von ansehnlichen Seiten aufgelockert. Und: Wer Probleme gern watteweich verpackt mag, liegt hier richtig.
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Bildstark, sarkastisch und unterhaltsam: Alain Ayroles „Der Schatten der Aufklärung“ beleuchtet boshaft die Karriere eines Taugewenigs

Nur dass Sie’s wissen: Ich muss mich manchmal auch immer wieder selbst überzeugen. In diesem Fall: von Alain Ayroles. Warum? Weil seine neue Serie „Der Schatten der Aufklärung“ optisch schon wieder so entgegenkommend ist, so kommerziell ansprechend, und prompt denke ich natürlich: „Sicher Mist.“ Aber: man soll doch dem Autor vertrauen, oder? Und Ayroles verdankt man doch den grandiosen (und ebenfalls verdächtig zugänglich aussehenden) „Indienschwindel“? Also gucke ich rein. Und was soll ich sagen? Es lohnt sich.
Ein Schönling schreibt mit Blut
Wieder widmet sich Ayroles einem talentierten Taugewenig, dem Chevalier de Saint-Sauveur. Der vergnügt sich Mitte des 18. Jahrhunderts in französischen Adelskreisen, will sich ganz nach oben intrigieren, an den Hof des Königs. Und gerade, als Saint-Sauveur auf 30 Seiten die unschuldige Eunice de Clairfont verführt hat und man sich denkt: „Jaja, wie in Gefährliche Liebschaften“, da findet sich der Schönling plötzlich von Indianern verfolgt im kanadischen Urwald und ritzt sich die Hand auf, damit er wenigstens Blut zum Schreiben seines Abschiedsbriefs hat.

Ein eigentlich plumper Trick, aber Ayroles verzeihe ich ihn gern, weil er in seinem Intrigantenstadel soviel besser macht als viele der Abenteueralben, die es sonst so gibt. Er textet nicht alles zu, vor allem sagen nicht dauernd Leute etwas, das man dann auch noch im Bild sieht. Eunice etwa will lesen, wissen, sich bilden, also denkt sich Ayroles Szenen aus, die das zeigen und illustriert damit nebenbei auch noch doppelseitig die Dorfschule, deren Lehrer im Moment grade der Schuhmacher ist, im Nebenjob. Und zu schwülstigen Liebesbrieftexten zeigt Ayroles, wie ein Vermieter seinen Knecht durchprügelt.
Brieftexte aus dem Off
Dafür hat Ayroles auch deshalb viel Zeit, weil er den ganzen Band als Briefroman gestaltet hat: So kann er immer wieder in Kästen die süffisanten Brieftexte laufen lassen und im Bild das zeigen, was währenddessen in den Köpfen oder auch anderswo tatsächlich vorgeht. Man muss sich nur etwas dran gewöhnen, weil man anfangs leicht mit den vielen Sendern und Empfängern durcheinanderkommt. Die Zeichnungen von Richard Guérineau helfen dabei. Besonders verdienstvoll: Man spürt praktisch in jedem Panel die Versuchung, all dem auch noch ein karikierendes Sahnehäubchen aufzusetzen, aber Guérineau und Ayroles widerstehen. Eine exzellente Entscheidung.

Denn Ayroles mag‘s gelegentlich auch klamaukig: Wohin das allerdings führt, zeigt seine Serie „Garulfo“, in der ein Frosch in einen Prinzen verwandelt wird. Geradezu atemlos hechelt das Abenteuer von Pointe zu Pointe. Zeichner Bruno Maiorana liefert auch noch Karikatives ohne Ende dazu, und genau dieses allgemeine Zuviel führt dazu, dass letztlich kaum ein Gag die optischen Versprechen einlöst. Der „Schatten der Aufklärung“ wählt genau den umgekehrten Weg, und sofort geht die Rechnung auf.
Wirkung statt Klamauk
Die Rendite: coole, dramatische und auch erotische Panels wirken umso stärker. Und Ayroles/Guérineau haben mehr als genug Gelegenheiten dafür: Ayroles erweitert die Bandbreite, indem er Saint-Sauveur einen Irokesen erwerben lässt, mit dem er bei Hofe glänzen will, und nicht nur diesem Irokesen verleiht Ayroles ein Eigenleben, sondern auch Saint Sauveurs Handlanger Gonzague. Und was anfangs aussah wie eine recht herkömmliche Mantel-und-Degen-Nummer, erweitert sich plötzlich zu einer spannenden Geschichte über Lügen, Missbrauch, Kolonialismus, Armut, Reichtum, krankhaften Ehrgeiz.

Ein bisschen schade ist nur, dass die „Schatten der Aufklärung“ portionsweise verabreicht werden, weil auch ich den Inhalt von Teil 1 wieder vergessen haben werde, wenn Teil 2 denn mal im Januar erscheint. Aber gut: Was Kevin Costner recht ist, darf einem Ayroles billig sein.