Nacktes provoziert heute anders: Wie schlägt sich die Neuausgabe des Klassikers „Bianca“ gegen Stjepan Sejics deftige SM-Romanze „Sonnenstein“?
Wer hätte gedacht, dass Nackerte so anstrengend sein können? Vor mir liegt Guido Crepax‘ Klassiker „Bianca“, und so sehr Crepax meine Augen weidet, so sehr muss ich mich zum Weiterlesen geradezu zwingen. Weil ich keine Ahnung habe, was der ganze Unfug soll und wo er hinführt. Dabei sieht der Unfug grandios aus.
Unglaublich originell, unglaublich witzlos
Bianca ist hübsch, dunkelhaarig und praktisch dauernd nackt unterwegs. Sie taumelt durch eine Fantasiewelt, sehr ähnlich wie „Alice im Wunderland“, sehr ähnlich wie „Little Nemo“ – das heißt, in dieser Traumwunderwelt ist praktisch alles möglich. Bianca wird von einem Wal verschluckt und begegnet im Wal dem Kapitän Ahab. Der (einer der seltenen lustigen Momente) findet, sie sollte sich erstmal was anziehen, und ihr dann ein spärliches Korsett aus seinem Fundus aussucht. Von dort bringt sie ein gestiefelter Kater zu einem Dompteur mit Monokel, der sie mit der Peitsche für eine Zirkusvorführung abrichtet und so weiter und so fort, anything goes. Unglaublich ästhetische SM-Fantasien, aber das unglaublichste ist, dass sie so unglaublich originell sind und doch so unglaublich witzlos.
Das ist freilich etwas unfair, weil man die Entstehungszeit bedenken muss: Wir befinden uns am Ende der 60er, und da funktioniert die erotische Provokation noch ganz anders. Die Wirkung der Nacktheit ist neu und modern, aufgeschlossen, und dann auch noch mit Fetisch – das war mal wow, Avantgarde. Das Problem ist, dass ausgerechnet diese nackte Aufregung das entscheidende Bindeglied war, das den ganzen Laden zusammenhielt. Noch immer überrascht „Bianca“ mit einfallsreichem Seitenlayout und aberwitzigen Zeichnungen, aber ich blättere nur noch durch, weil das Interessanteste von damals heute uninteressant geworden ist.
Überholt vom Mangamaterial
Vielleicht liegt es auch daran, dass mir gerade passend dazu „Sonnenstein“ vorliegt: clever und gut gemachte moderne Kommerz-Erotik von Stjepan Sejic. Die Geschichte ist im Grunde Mangamaterial: Frau A erzählt, wie es zu ihrer (klar: obendrein lesbischen) SM-Beziehung zu Frau B kam. Anders als „Bianca“ ist „Sonnenstein“ aber weniger Angebot Nackte anzugucken als eine deutlich zeitgemäßere Einladung, sich in dieser Fantasie gemütlich umzusehen und vielleicht auch ein bisschen mitzuspielen. Kaum jemand kann das derzeit so gut wie Sejic.
Er lässt beide Frauen zögern, sich finden, als Anfängerinnen gibt er beiden eine schön identifikationsfreundliche Unsicherheit mit, aber natürlich klappt alles beim Sex dann traumhaft gut, mit kurzen heiteren Irritationen, aber dann so richtig… Sejic nutzt das große Albumformat, er layoutet einladend, schwelgerisch, und er packt auch noch ungewöhnlich viel Text dazu, weil er den Leser, der sicher auch oft eine Leserin ist, in seinen opulenten Bildern halten will. Und, ja, in seinen Texten steht eben NICHT das, was man sowieso schon im Bild sieht.
Geschickt nutzt er dabei Gefühle gleichwertig wie Gefummel: Wenn die zwei, die sich im Netz kennenlernen, das erste echte Date ausmachen, dann haben sie vor lauter erregter Angst schon drei Tage vorher Bauchweh, und das will auch auf je einer ganzen Seite schön ausgebreitet sein.
Ja, hier steckt in Sejics Eroticomikunst schon sehr viel Kundendienst. Aber so anspruchsvoll Crepax‘ „Bianca“ auch sein mag, deutlich genießbarer ist „Sonnenstein“. Und anders als bei der (auch auf meine Nachfrage nicht näher bekannten) Auswahl unseres comiclesenden Bundeskanzlers bleibt hinterher kein Gefühl des „guilty pleasure“. Sondern eines des „expertly done pleasure“.
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Erotik-Fantasy mit einem Schuss Humor: Was klingt wie ein ungenießbarer Mix, macht Stjepan Sejic zu einer sehenswerten Lesenswürdigkeit
Heute hab ich mal was ganz anderes im Angebot: erstaunlich gute Kommerzkacke. Soft-Erotik, wohl vorwiegend an Frauen gerichtet, optisch extrem zugänglich, mit Fantasy-Elementen, kurz – eigentlich so gar nicht meine Baustelle. Aber wie gesagt: gut gemacht. „Fineprint“ heißt der Band, getextet vom Kroaten Stjepan Sejic, gezeichnet auch. Und zwar so attraktiv, dass ich anfangs extrem skeptisch war.
Graumaus trifft Fickmichs
Ich meine: Schon im Vorsatz (fachdeutsch für die Doppelseite direkt hinterm Buchdeckel) ist eine Tante im Bikini mit hüfthohen Fickmichstiefeln und Spockohren, ein Typ im String-Tanga mit Fickmichauchstiefeln und Hörnern. Über beiden eine junge Frau mit Graumausbrille, die erst gar nicht hinsehen mag, dann aber hinsehen muss und staunt, und – hoppla! Da ist schon was Gutes: Der Gesichtsausdruck von Graumaus.
Erst ist sie erschrocken, abgestoßen und hält den Unterarm verkrampft vor die Augen. Dann lässt sie den Arm sinken, die Hand öffnet sich, ihre Augen sind groß und überrascht. Das ist gut getroffen. Und die Anatomie der Fickmichleute ist auch tadellos. Und jetzt erkenne ich: Das ist der Gegenschuss der Szene mit den zwei Fickmichs. Denn Graumaus ist im Bild unten zwischen den Fickmichs, aber mit dem Rücken zu mir, die beiden Gesichter von ihr sind ihre Reaktion, das ist clever gemacht.
Also gut, schauen wir rein!
Als erstes treffen wir Graumaus wieder. In einem Meer von pinkfarbenen Schmetterlingen. Graumaus läuft Blut aus Nase und Mund. Graumaus wird sterben. Ein dramatischer Anfang mit guter Optik: Nicht nur wegen der Pinkflut, auch der Bildschnitt ist wirklich überzeugend. Aber Graumaus ist nicht allein: Neben ihr kniet eine engelartige Frau und eine teufelartige Frau, beide streiten über irgendwas, das wir geschickterweise nicht lesen können. Dann erzählt uns Graumaus ihre ziemlich unverständliche Geschichte.
Dialoge wie bei Terry Moore
Im Himmel tobt offenbar ein Kampf zwischen den Cupids (die Leute mit Liebe infizieren) und irgendwelchen Succuben (die für die Geilheit sorgen). Die Menschen geraten irgendwie dazwischen, aber über all das kann ich hinwegsehen, weil Seijic den unverständlichen Unsinn in Dialogen ausbreitet, die allem Quatsch zum Trotz sehens- und lesenswert sind. Da passt das Gesagte, da passt jede Reaktion, die Gestik, die Mimik, als Vergleich fällt mir dazu am ehesten noch Terry Moore („Strangers in Paradise“) ein. Verstehen tu ich zwar noch immer nichts, aber ich kann mich jedesmal auf die Seite der Ahnungslosen schlagen und fühle mich trotzdem gut unterhalten.
Für eine Atempause sorgt eine (sehr verständliche) Liebesgeschichte einer jungen Dame mit Zahnspange, die Sejic geduldig und gewitzt einfädelt, und dann packt Seijic allmählich den Sex aus. Der spielt zwar wieder mal bei den verquasten Göttern, wird aber anregend und humorvoll inszeniert, was nochmal Bonuspunkte geben muss, weil Sex und Humor sich leicht gegenseitig die Wirkung nehmen können.
Tja, und da wären dann noch die Bilder.
Viel Platz, viel Farbe - beides gut genutzt
Das Schöne ist nicht nur, dass die Story statt im schwarz-weiß-kleinen Mangaformat albumgroß und bunt erscheint, sondern dass Seijic mit dem Platz und der Farbe auch was anfangen kann. Er gibt seinen Szenen Platz und Zeit, den Protagonisten seitengroße Splashes (auf denen sie auch was zu sagen haben, das man minutenlang ansehen möchte). Er arbeitet überzeugend mit Licht und Schatten, wodurch die hellen Farben auch immer wieder verführerisch glühen, strahlen, glitzern. Er wechselt Perspektiven, dass es nicht nur beim Sex eine Freude ist.
Und das ganze Wunder vollbringt er, wohlgemerkt, mit einer Story, bei der vermutlich nicht nur Fantasy-Laien häufig rätseln, ob es sich hier um komplettes Chaos handelt oder eher um groben Unfug. Und die man trotzdem eben nicht nur anschaut, sondern, noch größeres Wunder, sogar liest. Was anstrengend werden kann: Seijic ist seit über 15 Jahren im Geschäft – wem „Fineprint“ gefällt, der findet allerhand zum Weiterprobieren.
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Ein verzaubertes Kleinod von Lewis Trondheim: „Ich bleibe“ erzählt von einem bitter-skurrilen Sommerurlaub – rätselhaft und mit melancholischer Magie
Ein Paar, Mitte dreißig, erreicht im Sommer einen französischen Küstenort. Es ist noch zu früh, um die für eine Woche gebuchte Unterkunft zu beziehen, also spazieren sie etwas herum. Hand in Hand. Es ist windig, so windig, dass die metallenen Zeitungsständer weggeweht werden. Die Frau muss lachen: einer davon fliegt sogar so knapp über sie hinweg, dass sie staunend zu ihrem Mann schaut. Sie sieht: Ihm fehlt jetzt der Kopf.
Guter Anfang, oder?
Erst Knalleffekt, dann sanfte Stille
Der Anfang stammt aus „Ich bleibe“, einem eigenwilligen, wundervollen Comic-Band, der sich, ganz nebenbei, auch ideal für Comic-Seiteneinsteiger eignet: Denn trotz des beeindruckenden Starts erzählt er ruhig, still, sanft, fast konventionell eine Geschichte, die zugleich gewöhnlich und ungewöhnlich ist. Weil die Frau namens Fabienne unerwartet reagiert: Sie bricht den Urlaub nicht ab, sondern sie bleibt.
Fabiennes Reaktion verleiht der Geschichte ein Rätsel, aber auch einen wunderlichen Zauber. Denn in den folgenden Tagen arbeitet sie gewissenhaft das Programm ab, das ihr Freund ihr in seinem Tagebuch hinterlassen hat. Die Stierkampfarena, die Flugshow der Luftwaffe, der Handwerksmarkt, es sind Orte voller ausgelassener Urlaubsfreude, Zeichner Hubert Chevillard erweckt sie geschickt zum Leben, mit kleinen und kleinsten sommerprallen Szenen, die praktisch jeder aus eigenen Ferien kennt. Und die alle eine besondere Note gewinnen, im Kontrast mit dieser stillen Frau, die irgendwo zwischen betäubt und emotionslos im Zentrum des ganzen Trubels sitzt und nicht recht weiß, wie ihr geschieht.
Nervtötender Köter
Verantwortlich für diese simple, aber wirkungsvolle Kombination ist Lewis Trondheim, der das Szenario geliefert hat. Fabienne ist einer seiner introvertierten, leicht verträumten Charaktere, der er den extrovertierten Paco an die Seite gibt, einen Händler für indischen Ethno-Kram, sowie einen nervtötend kläffenden Köter. Und so folgt man verwundert der erschreckend stillen, manchmal überraschend ruppigen jungen Frau durch ihre bitter-skurrile Urlaubswoche. Man würde Fabienne – wie Paco – gerne verstehen, aber durchschaut sie nie ganz.
Was den cleveren Effekt hat, dass Trondheim und Chevillard durch diese ständige Irritation ihr Publikum ganz nahe an die Ausnahmesituation der Trauer und des Todes bugsieren.