Wie gut ist das Juniorformat der neunten Kunst ? Heute startet die gefürchtete Challenge 2023 mit der unerbittlichsten Prüferin von allen: Julia (11)
Sie erinnern sich? 2020 saß Julia mit fast neun Jahren gelangweilt im Corona-Lockdown - die ideale Zeit, um Comics zu testen. Heute ist Julia elf, nicht mehr in der Grundschule, sondern im Gymnasium. Comics liest sie immer noch, und es sind inzwischen auch ein paar Klassiker dazugekommen. Nach den Kindercomics hat sie im Rekordtempo alle Asterix-Bände weggelesen. Und ein paar Gaston-Alben, aber da hab ich nicht so viele. Was sie für die neue Runde 2023 zu einer deutlich erfahreneren Kritikerin macht...
Unter schwarzer Flagge: Zack!
Wir beginnen mit dem Band „Zack!“ von Volker Schmitt und Màriam Ben-Arab. Darin fährt die kleine Bonny mit ihrer Familie ans Meer. Dort folgt sie in der ersten Nacht einer einäugigen Katze, findet am Strand einen bewusstlosen Piraten, den sie mit einem Floß zu seinem Segelschiff zurückbringt, wo er die Kontrolle über seine meuternde Mannschaft zurückgewinnt. Dann kehrt sie zu ihrer Familie zurück.
Das ist schwungvoll gezeichnet, munter lesbar, aber mir geht alles eine Spur zu einfach. Bonny löst alle Probleme wie ein Ein-Mädchen-Tick-Trick-und-Track, es gibt keine richtigen Konflikte. Schmitt und Ben-Arab wollten eben ein Kind im (alten, nicht modernen!) Piratenumfeld, und so geschah es. Aber was mich stört, ist Julia egal. Zack wird in einem Rutsch durchgelesen. Ein bisschen irritiert Julia am Ende die Erzählzeit: Bonny war ganz schön lange weg. Als sie zurückkehrt, benehmen sich ihre Eltern, als wär’s nur über Nacht gewesen. Aber für einen Traum ist Bonny zu schmutzig, und sie schreibt Zack doch auch noch eine Flaschenpost, die der dann sogar liest, wie geht das zusammen?
Das Urteil bleibt zunächst aus, weil: Noch fehlt der Comic, mit dem Julia „Zack“ vergleichen könnte (siehe unten).
Die beste, weil lustigste Stelle: Das Boot mit dem ausgesetzten, bösen Piraten und seinem Papagei sinkt. Der Pirat jammert, dass er nicht schwimmen kann. Dem Papagei fällt ein: „Aber ich kann ja fliegen.“
Die niedlichste Stelle: Wie die einäugige Katze kotzt.
Boris, Babette und lauter Skelette
Dieses Haustier ist ein Traum: Babette, gelb, ein bisschen affen-und katzenhaft, schläft viel, kackt nicht, frisst wenig, kann sprechen – sowas hätte ich als Kind auch gern gehabt. Die Halterin muss aber zum Studienjahr nach England und schwatzt das Tier dem Nachbarsjungen Boris auf. Doch weil Babette die Gothic-Deathmetal-Deko der Vorbesitzerin gewöhnt ist, braucht sie jetzt auch bei Boris eine Schauder-Umgebung. Klar: Die Haustier-Problematik ist hier gar nicht so zentral. Es geht eher um Heimlichkeiten, ums Verstecken, das Reden mit den Eltern. Das allerdings in recht hübschen Varianten.
Julia liest auch „Babette“ gern durch. Aber die Bilder aus „Zack“ gefallen ihr besser. Was mich überrascht: Die Haustier-Problematik ist für sie eher zweitrangig, obwohl auch Julia gern einen Hund hätte. Entscheidend ist, ob die Geschichte lustig ist oder spannend, und ob sie und gute Wendungen hat. Dass Babette einen Sprachfehler hat und dem bösen Mitschüler Flo eine clevere Falle stellt ist also wichtiger als die Haustier-Lösung „Babette wohnt beim Opa und man kann sie immer besuchen“.
Die beste (weil lustigste) Stelle: Wie Boris mit seiner Mutter redet, die aber im Arbeitsstress ist und ihm lauter wirre Sachen sagt. Wie: „Vergiss nicht Abendbrot und komm zum Helmaufsetzen nach Hause!“
Die niedlichste Szene: Wie Babette aus Boris' Rucksack rausschaut.
Die erste Entscheidung
Nach Tag zwei stellt sich erstmals die Frage: Wenn Julia einen Comic an eine Freundin verschenken dürfte, welcher wäre es? Julia knobelt länger als erwartet und entscheidet dann:
1. Zack
2. Boris, Babette und lauter Skelette
P.S.
Ein kleiner Nachtrag: Tanja Eschs „Boris, Babette und lauter Skelette“ hat zur Frankfurter Buchmesse 2023 den Preis den Deutschen Jugendliteraturpreis abgeräumt. Kann man trotz dem Abschlussplatz 7 bei Julia absolut vertreten.
... wird natürlich fortgesetzt
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Enorm witzig, verblüffend einfühlsam: Josephine Marks Krankheits-Comic „Trip mit Tropf“ mischt extreme Härte mit extremer Niedlichkeit
Manche Comics sind so gut, dass man einfach sofort was dazu schreiben muss. Dieser Comic ist einer davon. Ich hab reingesehen, weil ich mal wieder was zum Thema Kindercomics machen will. Aber so lange kann Josephine Marks „Trip mit Tropf“ nicht warten. Und überhaupt: Wenn das ein Kindercomic ist, dann sind auch die „Peanuts“ Kinderkram…
Zwischen Krückenfuchs und Halswehhirsch
Wir befinden uns im Wald, in der Ambulanz für Tiere. Der Krückenfuchs kommt grade rein, der Halswehhirsch sitzt auf dem Wartebaumstamm, und die Maulwurfschwester sucht eine passende Vene für die Infusion des Kaninchens. All das ist so absurd wie niedlich, dass man’s sofort akzeptiert. Und noch was hilft ungemein: lakonische Dialoge. Sparsamst gefüllte Sprechblasen, die den darunter lauernden Humor so trocken machen wie einen Martini.
Dazu kommen ziemlich erwachsene Bitterstoffe. Am Tropf des Kaninchens hängen drei Infusionsbeutel, kein Schelm, wer Chemo dabei denkt. Kann das gut gehen? – und schon schmeißt der Wolf aus dem Nachbarabteil die Krankenschwester durchs Bild und näht sich supercool seine Schusswunde selber zu. Aber als er sich gerade ums leckere Kaninchen kümmern will, überfallen Jäger die Ambulanz.
Perfekt getimter Roadtrip
Wolf und Kaninchen fliehen, und weil eine Kugel vom Karnickel-Tropf abprallt und dem Wolf das Leben rettet, müssen beide zusammenbleiben, bis der Wolf seinerseits das Kaninchen gerettet hat. Indem er dafür sorgt, dass das Kaninchen nicht von Jägern erschossen wird. Und die ganzen mitgenommenen Medikamente ordnungsgemäß einnimmt.
Ein Roadtrip also. Gibt’s öfter. Was macht ihn so gut? Zum einen die geschickt kombinierten Charaktere. Das Kaninchen ist sanft, ängstlich, wehrlos. Der Wolf ist hart, rüde, reaktionsschnell. Aber er sorgt sich ums Kaninchen, und das macht ihn seltsam verletztlich. Zum anderen die Optik, der souverän leichte Umgang mit Farben und Licht: Egal, ob Herbstwald, Schneelandschaft, Nachtwanderung, man würde gern länger die Seiten anschauen – obwohl die rasante Geschichte mit den knappen Dialogen einen so verführerisch nach vorne zieht. Aber das Beste an „Trip mit Tropf“ ist das Timing.
Schlucken beim Lachen. Oder umgekehrt
Sagen wir, ein Kaninchen verheddert sich in den Schläuchen seines Tropfers. Wie lange soll der Wolf dabei genervt zusehen? Ein Bild? Zu kurz. Zwei Seiten? Zu lang. Mark entscheidet sich für vier Panels übereinander, aber alle seitenbreit – links der allmählich schäumende Wolf, rechts das Kaninchen-Knäuel. Bis er im letzten Bild endlich das Karnickel befreit. Und was sagt er dabei?
„Herrgott noch mal!“
Mehr nicht. Wozu auch? Da ist alles drin.
Oder: Nacht, Schneetreiben. Der Wolf kämpft sich mit dem Tropfer bergauf. Wie er schon fast rechts aus dem dritten Bild hinausverschwindet, taucht ganz links das Kaninchen auf. Man sieht kaum den Kopf. Wolf sieht zu, wie sich das Kaninchen hochkämpft. Im sechsten Bild kommt es noch nicht mal bis zur Bildmitte.
Wolf kehrt um. Trägt das Kaninchen.
Ganz schwer, da nicht zu schlucken.
Tragikomisch bis zum Anschlag
Mehrfach liest man, Josephine Mark hätte in „Trip mit Tropf“ ihre eigene Krebserkrankung verarbeitet. Wichtiger für den (zurecht mit dem Max-und-Moritz-Preis ausgezeichneten) Comic ist, dass sie dem inzwischen recht abgegriffenen Erzählstandard des unkonventionellen Kranken („Knocking on Heaven‘s Door“, „Der geilste Tag“) was Originelles und zugleich wesentlich Authentischeres entgegensetzt: die tapfer-bizarre Wehrlosigkeit und Leidensfähigkeit des Kaninchens, die sie mit dem schnoddrigen Wolf extrem komisch ausbalanciert. Und dass mit Josephine Mark endlich mal jemand nicht Tragödie und Komödie miteinander bis zur völligen Harmlosigkeit neutralisiert, sondern sie im Gegenteil bis zum Anschlag ausreizt. Im Wissen, dass man dem Kaninchen nur wünschen kann, dass es für immer bei dieser einen Chemo-Runde bleiben wird. Garantieren kann man's nicht.