Die grandiose Jung-Frauen-Romanze „Roaming“ nutzt drei simple Zutaten für fünf magische Tage: Sightseeing. Zurechtfinding. Verliebing
Ja, genau, so muss das laufen mit diesen Preisverleihungen. Denn natürlich hab ich „Roaming“ dereinst in der Vorschau gesehen. Aber der alte weiße Mann hat halt wieder mal irgendwas mit „queer“ gelesen, irgendwelche Pastellfarben gesehen, und sofort GÄHN. Aber genau dafür sind Preise gut: Den Eisner-Award gab es kürzlich für „Roaming“, und prompt denkt man: Huch, vielleicht hab ich was verpasst!
Tja: Genau so ist es.
Die Suche nach der besten Pizza
Zwei Frauen stecken dahinter, Cousinen, Jillian und Mariko Tamaki, sie sind solide in den 40ern. Mariko entwirft Text und Szenario, Jillian liefert die Zeichnungen. Beides kommt unscheinbar daher, denn die Geschichte ist ein absolutes Nichts: Drei junge Kanadierinnen kommen für fünf Tage als Touristinnen nach New York. Sie machen null Besonderes, Sightseeing, Zurechtfinding, Verliebing, das ist schon alles. Und die Zeichnungen sind auch noch superschlicht, „Tim-und-Struppi“ oder Walter Trier in reduziert, nur in Schwarz-weiß mit zwei Ergänzungsfarben, Lila und Beige. Und trotzdem kann man’s kaum aus der Hand legen. Wie geht das?
Indem man dem Leser die Charaktere sofort ans Herz legt. Mariko Tamaki gelingt das, indem sie die Zoe (so um die 18) erst der Verlorenheit nach der Ankunft am fremden Flughafen aussetzt und dann unter den ankommenden Touri-Horden endlich ihre Jugendfreundin Dani finden lässt. Das Wiedersehen inszeniert dann Jillian als Splash mit einem derart umwerfenden Schwung, dass das monatelange gegenseitige Vermissen förmlich aus den Buchseiten spritzt. Und dann rührt Mariko einen Zeitzünder ins Glück: Dani hat eine Freundin mitgebracht, die selbstbewusste Fiona.
Verführerische Arroganz
Eigentlich klassischer Mangastoff, der hier eine Spur erwachsener verabreicht wird. So sind die Mädchen nicht marktgerecht durchdesignt: Zoe ist ein kurzgeschorener Außenseiter im schwarzen Hoodie, Dani ist eine stämmige Unscheinbarkeit in Latzhosen, und die moppelige Fiona brezelt sich zwar gern auf, aber das Verführerische kommt vor allem aus ihrem arroganten Selbstbewusstsein. Zudem wird anders als im Standardmanga viel gezeigt und wenig zugetextet. Über viele Seiten breitet Jillian den Zauber New Yorks aus. Aber weil die Story 2009 spielt, fehlt die permanente Selfie-Perspektive: Stattdessen herrscht das Gefühl des ersten Entdeckens, Tage mit viel Zeit, ohne Termine und andere Pflichten als der Suche nach der besten Pizza. Kaffee aus Bechern trinken wie Serien-Ermittler. Was einkaufen. Und sich ein bisschen verlieben.
Allein mit dem Flirt
Auch angenehm: Keiner diskutiert hier ewig über seine Orientierung. Zoe und Dani sind auch vor allem Freundinnen, kein Couple. Und der Sprengsatz Fiona zündet ganz automatisch, weil Fiona einfach nicht lang fragt, sondern mal ein bisschen anfasst, Finger im Vorbeigehen streift. Wozu, ebenfalls nicht-standard-mangamäßig, auch niemand dazuschreibt „Finger im Vorbeigehenstreif!“ plus anschließendes „Zusammenzuck!“ Der Moment gehört ganz allein den Mädchen mit den jeweiligen Fingern und dem Leser, herzlichen Dank.
Cremiger Schmelz aus Lila und Beige
All das wirkt aber auch deshalb so zauberhaft, weil Jillian es mit erstaunlichen Seiten und Übergängen geradezu schwelgerisch ausbreitet. Abwechslungsreiche Blickwinkel auf Stadt und Besucherinnen, gut beobachtete, präzise eingefangene Bewegungen. Simple und erfrischende Action-Shots in U-Bahnhöfen oder fahrenden Zügen. Einen ganz eigenen Reiz bietet dabei der Farbmix, gerade auch das verblüffende Zusammenspiel von schwarz-exakten und farbig-sanften Linien, eine eigenwillig cremiger Schmelz, wie kalte Butter auf heißem Toast.
So. Und wer jetzt mit wem was anfängt und wer verletzt wird und wie alles ausgeht, das sage ich jetzt alles nicht. Lassen Sie sich überraschen, rühren, verzaubern und erleben Sie New York nochmal wie damals, mit viel Herzklopfen und ganz wenig Geld. Und ich schau als Nächstes, was die Tamakis sonst noch so gemacht haben.