- 22. Dez. 2024
Wie Jerusalem-Experte Vincent Lemire 4000 Jahre Stadtgeschichte in einen Comic-Band packt – und die Deutsch-Israelische Gesellschaft verärgert

Was würde sich besser für Weihnachten eignen als Jerusalem? Stimmt, Bethlehem, aber dazu gibt’s grade keinen Comic. Außerdem hat „Jerusalem“ gerade einen schönen Skandal verursacht, und Streit gehört an Weihnachten ja auch dazu, was will man also mehr?
Mild humorgewürzt
Der Band selbst ist groß, schwer, bunt, erinnert optisch ein wenig an die Comicversion von Hararis Bestsellern. Was bedeutet: Nett gezeichnet (von Christophe Gaultier), kommerziell, keinesfalls herausfordernd, was aber gerade bei Sachcomics stets eine plausible, absolut zulässige Option ist. Autor ist der Historiker Vincent Lemire, der vier Jahre lang das französische Forschungszentrum in Jerusalem leitete, sich auf die Stadt spezialisiert und auch schon einige gut/skandalfrei verkäufliche Bücher zu diesem Thema verfasst hat.

Der Inhalt: 4000 Jahre Stadtgeschichte in zehn Kapiteln, geschildert aus der Perspektive eines langlebigen Ölbaums auf dem Ölberg – was überraschender Weise tatsächlich denkbar ist. Mild humorgewürzt arbeitet Lemire die vier Jahrtausende chronologisch auf, sehr gründlich, sehr detailliert, leicht zugänglich, unterhaltsam – trotzdem ist das Ergebnis nicht unbedingt an einem Tag runterzulesen und damit mehr was für „Über die Feiertage“. Allerdings hat diese Detailtiefe auch Tücken.
Fundgrube für Reliquien
Lemire erzählt viel, oft anhand alter Quellen, Briefe, Dokumente, und diese Anekdotenhaftigkeit hat eindeutig unterhaltsame Vorteile. Die sich inhaltlich jedoch mitunter als Nachteile entpuppen: Sehr oft übernimmt Lemire einfach die Quelleninhalte, ohne Fakten und Legende, Beobachtung und Tatsache deutlich zu unterscheiden. Und, ja: Man könnte denken, Lemire hätte vielleicht einfach dank seines Fachwissens nur Zutreffendes ausgewählt. Aber als dann im 6. Jahrhundert in Jerusalem die Reliquien wundersamer Weise wie Pilze aus dem Boden kommen, sagt er nichts dazu.

Sicher: Der Unsinn des Ganzen lässt sich für jeden Erwachsenen und die meisten Kinder erschließen, aber Lemires Hilfe dazu ist so spärlich, dass bei den folgenden Schilderungen oft nicht sicher ist, ob das jeweilige Mirakel, Massaker oder Memoir zutreffend, erträumt oder übertrieben ist. Zumal gerade im 19. Jahrhundert praktisch jeder, der einen Stift halten konnte, seinen Senf zu der Stadt und ihrem Zustand gegeben zu haben scheint (Melville, Curzon, Chateaubriand, Gogol, Flaubert, Hinz, Kunz). Da habe ich Orientierungshilfen vom Fachmann öfter mal vermisst.
Das irre „Wer war zuerst da?“-Spiel
Trotzdem bleibt einiges hängen: Etwa die Irrsinnigkeit, in diesem jahrtausendealten Brennpunkt ein „Wer war zuerst da?“-Spiel anzufangen. Oder die Erkenntnis, dass es dieser Stadt (und diesem Land) gut tut, wenn jeder sein Ding macht – und schadet, wenn einer oder mehrere die anderen bekämpfen oder gar umbringen. Schon angesichts dessen ist die kürzliche Skandalisierung extrem unangebracht.

Der Comic hätte nämlich Anfang Dezember in Berlin vorgestellt werden sollen. Begleitet von Volker Beck, dem Chef der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Der ließ allerdings dann die Veranstaltung platzen, weil Lemire was angeblich Schlimmes gesagt hat: Dass man nämlich den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Ministerpräsidenten ausführen sollte, wenn Benjamin Netanjahu mal nach Frankreich käme. Eine Meinung, der man sich anschließen kann oder nicht, die jedoch eines mit Sicherheit nicht ist: schlimm. Fürchtet Euch also nicht, jedenfalls weder vor Comic oder Autor, sondern allenfalls davor, dass man nach dieser Lektüre noch die eine oder andere zusätzlich brauchen kann. Ich empfehle ergänzend die nachgerade hinterlustige Comic-Satire „Tunnel“ von Rutu Modan!
Frohes Fest!
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- 24. Feb. 2024
Verständnis wecken, kurz und knapp: Das gut gemachte Webprojekt „Wie geht es dir“ vermittelt im Nahost-Konflikt

Heute gibt’s mal wieder was Kostenloses. Und politisch Interessantes, Brisantes, aber in jedem Fall: Sehens- und Lesenswertes. Nämlich die Netzseite „Wie geht es dir“, die nach dem 7. Oktober online ging – wie man am Datum sieht, geht's um die aktuelle Entwicklung im Nahostkonflikt. Einmal pro Woche fabrizieren deutsche Comic-Künstler aus einem Gespräch mit Konflikt-Betroffenen eine Seite, elf Stück sind schon zusammengekommen. Vieles daran ist gut, aber mit zum Besten gehört schon mal: die Einleitung.
Gelungene Gewichtung
„Der grauenhafte Überfall der Hamas auf Israel … und das entsetzliche Leid, das die anhaltenden Angriffe des israelischen Militärs … über die Menschen bringen, machen uns fassungslos.“ Da ist schon mal in selten gelungener Gewichtung alles drin: Wer die jüngste Eskalation ausgelöst hat. Wer derart zurückschlägt, dass man es kaum noch angemessen finden kann. Und die Fassungslosigkeit, die wohl jeden packt, der den Irrsinn verfolgt. Unterfüttert von der endlosen Vorgeschichte, die nur eine Erzählrichtung kennt: schlimmer.

Die eigentliche Herausforderung des Projektes besteht allerdings darin, diesem Anspruch gerecht zu werden. Sonst drohen die Beiträge so fade zu werden wie der über die Erlanger „Initiative kritisches Gedenken“. Und auch die Befragung des Historikers Andreas Brämer, der den aufwallenden Antisemitismus und seinen Kampf dagegen schildert, ist reichlich erwartbar. Könnte aber auch an der Auswahl der Gesprächsteilnehmer liegen: Birgit Weyhe gelang etwa ein viel spannenderer Griff.
Manche haben mehr zu sagen
Weyhe befragt die Halb-Libanesin Andrea Karime. Die sagt deutlich, was im Grunde jeder beobachtet: „Je nachdem, mit wem ich mich unterhielt, war Empathie nur für eine Seite erlaubt, Israel oder Palästina. Dabei ist alles gleichzeitig furchtbar.“ Und so erzählt Karime, wie Bekannte (wegen ihres arabischen Vaters) ihr häufig im Zu-kurz-Schluss Sympathie für die Hamas unterstellen. Wie soll man damit umgehen, wenn man nur eine Seite bedauern darf? Plötzlich fühlt sie sich unter Generalverdacht, spürt, wie sie als Deutsche wieder zur fragwürdigen Araberin wird – und ist damit ganz nah bei der jüdischen Tante von Zeichnerin Hannah Brinkmann.

Die stammt aus Israel, sah sich aber stets als Israeli unter Israelis und eben nicht als Jüdin – sie war endlich die Sonderrolle los. Jetzt, in London lebend, stellt sie fest, dass sie wieder bei den Juden einsortiert wird. Auch bei ihr zerfällt der Traum von der Normalität. Bemerkenswert: Dieselbe Tante registriert enttäuscht, dass nach dem Hamas-Attentat zwar viele Bekannte besorgt anrufen, aber nur wenige aus Deutschland. Also aus dem Land, das selbst so gern „normal“ wäre. Und an das die Israeli jetzt ihrerseits spezielle Erwartungen richtet. Brinkmann kommentiert das nicht, sie gibt es zum Begrübeln frei.
Schwimmen gegen die Wut und den Strom
Auch sehr elegant: Die beiden Beiträge von Barbara Yelin. Im ersten greift sie naheliegender Weise auf ihre Kooperation mit der Holocaustüberlebenden Emmie Arbel zurück, die resigniert dem Frieden Priorität vor dem Zuhause einräumt. Yelins zweiter Beitrag widmet sich einer gebürtigen Araberin, die mit elf nach Deutschland kam – der Autorin Rasha Khayat. Die macht es schier wahnsinnig, dass sie seit Jahren für eine pluralistische Gesellschaft schreibt und sieht, wie ihre Arbeit durch das Hassgeplapper in den sozialen Netzwerken weggespült wird. Yelin zeigt sie beim Schwimmen, wie sie mühsam Bahn um Bahn versucht wieder runterzukommen.

Generell ist das Projekt geschickt gemacht: Kein endloser Sums, eine knackige Seite pro Woche, die auch mal eingängig reduziert werden kann wie beim piktografischen Beitrag von Thomas Gilke. Der Einleitung gemäß wären mehr reflektierte palästinensisch-muslimische Gesprächspartner schön, vor allem, weil deren Perspektive hier noch immer ungewohnter ist – aber das kann ja noch kommen. Auffallend ist hingegen jetzt schon, was den Interviewten fast durchgehend fehlt: Überraschung.
So schlimmer wie immer
Nur mal zur Erinnerung: Es gab die grausigen, extrabrutal inszenierten Anschläge, es läuft ein Rachefeldzug, der zigmal mehr Opfer fordert und diese inzwischen beinahe ebenso gleichgültig auswählt. Und all die befragten Menschen sind enttäuscht, frustriert, schockiert, über Ausführung und Ausmaß, aber kein einziger ist überrascht. Warum sollten sie es auch sein? Weil irgendwas diesmal noch schlimmer ist als vorher? Wen sollte das überraschen?
Und das ist denn auch das Einzige, was man dem Projekt, das vor allem Verständnis wecken möchte, (noch) wünschen würde: eine Perspektive, eine Folgerung. Um der drohenden Hoffnungslosigkeit wenigstens ein bisschen Hoffnung hinzuzufügen.
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- 3. Dez. 2023
Der harte Kampf gegen das Vergessen: In und für „Emmie Arbel“ zeichnet sich Barbara Yelin förmlich die Seele aus dem Leib

Holocaustgeschichten. Muss denn noch eine? Schreien viele: Ja! Dringend! Heute mehr denn je. Gähnen inzwischen aber auch viele: Mjaaaa. Ist aber doch immer dasselbe. Das ist so ziemlich das Problem, mit dem auch Barbara Yelins Band „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ zu kämpfen hat. Das Erstaunliche ist, wie gut sich Yelins Comic gegen diese Ermüdung zu behaupten vermag.
Tröstliche Computerspiele
Das liegt sicher auch an der Protagonistin, die Yelin im Zuge des Projekts „Aber ich lebe“ kennenlernte. Emmie Arbel ist eine toughe Kettenraucherin (was vermutlich im Comic angenehmer ist als wenn man neben ihr sitzt). Ihre Erinnerung spult nicht willig ab, sondern streikt immer wieder oder wird auch ruhiggestellt. Arbel flieht oft vor der Schlaflosigkeit an den Computer, wo sie mit der „Solitär“-Patience ihren Gedanken ausweicht. Aber es liegt vor allem auch daran, wie viel Leben Yelin den düsteren Inhalten abgewinnt.

Gefühlt mindestens die Hälfte des Buches lässt Yelin ihre Emmie in grünen Gärten, auf Terrassen nachdenklich in einem friedlichen Sonnenschein erzählen (und quarzen). Ihre Tochter kommt zu Besuch, die Enkel, das hat auch oft etwas ungemein Tröstliches, Belebendes, Erfrischendes. Da ist ein Mensch, den die nazifizierten Deutschen so gerne umgebracht hätten, und der lebt munter und durchaus auch ein wenig trotzig weiter vor sich hin: auf jeden Fall eine gute Nachricht.
Missbrauch bis zum Totenbett
Arbel, die in Holland aufwächst, erlebte im KZ Bergen-Belsen den Tod ihrer Mutter, sie kam nach dem Krieg (wie viele jüdische Kinder) nach Schweden, dann von dort zurück nach Holland, wo sie ihre beiden Brüder wieder trifft und mit ihnen zu einer Pflegefamilie kommt. Dort missbraucht sie der Pflegevater. 1949 siedelt die Familie um nach Israel, in einen Kibbuz, doch viel glücklicher wird das Familienleben dort nicht. Emmie entwickelt allerdings einen extrem starken, eigenen Willen. Sie war im KZ, ihr Pflegevater ist ein Arschloch, vor was soll man da noch Angst haben?

Vor Autoritäten jedenfalls nicht. Sie schwänzt den Schulunterricht, sie kennt sich mit den ersten Computern gut aus, sie geht zum Militär. Sie hat zwei Töchter, eine stirbt. Was ist das jetzt für ein Leben?
Schön ist, dass Yelin sich beim Bedauern extrem zurückhält, sie überlässt es ganz den Lesern: Yelin selbst konzentriert sich mehr auf die Mechanismen des Überlebens, Emmies erstaunliches In-sich-Ruhen, das trotzdem nicht abgestumpft oder gar gefühlskalt wirkt, sondern stark, beherrscht und – wohl auch dank des Überstehens der Schoah – unbeirrbar zum Leben entschlossen.
Hellwache Beobachterin
Erfreulich ist auch, dass Yelin sich von den Erwartbarkeiten von Holocaustgeschichten nicht einschläfern lässt. Sie bleibt wach für ungewöhnliche Facetten: Etwa das Schweigen der Überlebenden untereinander, weil man stark sein will, weil sich das stolze junge Land Israel doch gerade so erfreulich im Unabhängigkeitskrieg bewährt hat. Und aus Scham, weil offenbar viele Juden aus Israel den Nazi-Opfern unterstellten, sie hätten sich gegen die Vernichtung zu wenig oder falsch gewehrt. So verschweigen die Juden aus den Lagern ihr Leid letztlich aus ähnlichen Gründen wie die Deutschen: Da will ja auch niemand das schöne Wirtschaftswunder mit Nazigeschichten zerinnern.

All das macht „Emmie Arbel“ nicht nur lesenswert, sondern auch sehr genießbar – wenn man den Band erst mal in die Hand genommen hat. Denn obwohl sich Barbara Yelin förmlich die Seele aus dem Leib zeichnet, kann sie natürlich keine wirklich neuen Zugänge zum Thema eröffnen. Dabei wären die gerade jetzt mit jedem Tag dringend nötiger.