Die schwarze Kunst des Zeichenmagiers Alberto Breccia plus H. G. Oesterhelds fantastische Stories: die Wiederentdeckung des Comic-Klassikers „Mort Cinder“
Wow. W. A. U. Aber sowas von. Dabei ist dieser Comic alt. Und neu zugleich. Alt für die ganzen alten Comic-Hasen. Neu für mich und bestimmt noch ein, zwei Leute. Was daran liegt, dass der Comic vor gut 60 Jahren in einem anderen Teil der Welt erschien, nämlich in Argentinien. Der Comic heißt „Mort Cinder“, und ich verspreche es: Beim Lesen gehen Ihnen die Augen über.
Der Hüne und der Knitterknacker
Die Geschichte ist ein bisschen abstrus, was am Szenaristen Héctor Germán Oesterheld liegt: Ein politischer Kopf (was ihn unter der Diktatur denselben gekostet hat), der Abenteuergeschichten genauso entschlossen entwarf wie Fantastisches, Angegruseltes. In „Mort Cinder“ verstrickt ein mysteriöses Amulett einen knittrigen Londoner Antiquitätenhändler in die Rettung des Titelhelden. Der ist bereits begraben und soll von seltsamen Männern „mit Augen wie Blei“ auf dem Friedhof mit einem Pflock durchbohrt werden. Der Antiquar verhindert es und schließt Freundschaft mit diesem kräftigen Hünen, der weit mehr als nur ein oder zwei Leben hinter sich hat und daraufhin dem alten Herrn viel von dieser Vergangenheit erzählt – oder ihn gleich mit auf Zeitreise nimmt.
Man ahnt: Das Ganze ist ein Vehikel, um Abenteuer in verschiedenen Epochen zu erzählen. Gibt’s öfter. Entscheidend ist also: Wie ist es gemacht? Und das führt uns zu Alberto Breccia. Den Kenner kennen, ich kannte aber bislang nur seinen Namen. Der Mann ist nicht weniger als der Wahnsinn. Man möchte kaum glauben, dass er auch nur mit Schwarz und Weiß arbeitet. Nur mal als Beispiel: der Herr vom Einstiegsbild ganz oben. So teuflisch angeleuchtet, das die Hutkrempe schneidend weiß ins Auge sticht. Wie geht das? Ist doch auch nur Weiß, oder? Und wie sich dieser Realismus auflöst, je länger man hinsieht: Sie erkennen die handgeführten Striche, von einem Pinsel oder einfach nur einem dicken Filzstift, teilweise regelrecht grob gesetzt. Und dann blinzelt man zweimal, geht zehn Zentimeter zurück, und es ist wieder so real wie ein Passbild. Und das ist nur eines von Breccias Talenten.
Ein Umriss ohne Umriss
Gucken Sie mal, das Bild unten: Ein Mann hilft einem anderen Mann nachts aus dem Sumpf. Ist schon mal der erste Knüller: Sie wissen, dass es Nacht ist, ich weiß, dass es Nacht ist – aber wo kriegt Breccia dann mitten in der Nacht das ganze Licht her? Und wie wir das Bild ansehen: Wir haben keine Chance, Breccias Regie zu umgehen. Breccia führt uns über den gekrümmten Rücken, den Arm entlang zu dem Verzweifelten im Sumpf in die Tiefe, und von dort über den Baum wieder zurück zu den Wurzeln im Vordergrund. Wir spüren förmlich, wie weit weg der Mann im Sumpf von dem Mann in Sicherheit ist, und dann schauen wir alles nochmal an, Rücken, Ast, Arm, Baum… Woraus bestehen diese Bäume eigentlich? Aus Kratzern im Weiß? Oder Kratzern im Schwarz? Und auf dem Regenmantel: Da hat sich doch Breccia einfach wieder mit dem Filzstift ausgetobt. Zweimal blinzeln: Schon ist’s wieder fotoreal. Übrigens: Der Glatzkopf im Sumpf – Sie erkennen den Umriss des Schädels ganz genau, nicht wahr? Obwohl gar keine Linie da ist.
Man kann diese Geschichten genießen, die Atmosphäre, die düsteren Schatten, die brutale Gewalt und Action im Ersten Weltkrieg oder in der Thermopylenschlacht. Man kann aber auch immer wieder in die Zeichnungen eintauchen und versuchen, Breccias Tricks auf die Spur zu kommen. Weil er sich ganz offen beim Zaubern zusehen lässt.
Frische Stories, mutig erzählt
Ein paar Abstriche muss man bei Oesterhelds Erzählstil machen, der inzwischen mitunter etwas Patina angesetzt hat und manche Wendung mit der Brechstange herbeiführt. Aber trotzdem bleiben die Geschichten frisch und überraschend. Natürlich müssen Leonidas und seine 300 Spartiaten auch hier sterben, aber die Weltkriegsstory, die Knastgeschichte oder der Ausflug ins alte Ägypten sind in ihrer Eigenwilligkeit kaum vorhersehbar.
Es gäbe noch viel zu erzählen: warum die Argentinier so eine unglaubliche Comic-Affinität haben, warum diese Comics hier kaum bekannt sind, das bittere Schicksal der Familie Oesterheld – aber zum Genuss von „Mort Cinder“ ist all das nicht unbedingt nötig. Lehnen Sie sich zurück, staunen Sie und verwöhnen Sie Ihre Augen auf über 200 grandiosen Seiten.
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Die Outtakes (6): Hörnerhelme, bodenlose Löcher und das eigenwillige Frühwerk einer Comic-Legende
Hägar, der nicht ganz so Schreckliche
Geschichten von Wilfried Lupano sind immer einen Blick wert. Die Hägar-Alternative „Wikinger im Nebel“ hat jedoch ihre Tücken. Aus unerfindlichen Gründen hat sich Lupano entschlossen, die Geschichte in halbseitigen Einzelstrips zu erzählen, vergleichbar den Sonntagsstrips in Zeitungen. Diese Form schadet hier mehr als sie nutzt: Einzelstrips brauchen extrem starke Gags, weil ihre Pointe geradezu fahrplanmäßig im vor-/letzten Panel erwartbar ist. Lupanos Gags funktionieren aber meistens, weil er sie überraschend im Vorübergehen fallen lässt. Ergebnis: Ich sage zuverlässig zweimal pro Seite „Naja.“
Vielleicht habe ich aber auch nur einen blöden Humor. Wem Hägar nicht genügt, der möge also vielleicht hier mal reinsehen.
Grusel mit Shutter-Island-Dressing
Gute Gruselstories sind was Feines. Jeff Lemire (der einen schon bei „Black Hammer“ angenehm lang im Ungewissen ließ) als Autor: verheißungsvoll. Und „Die Passage“ geht exzellent los: Ein Geologe kommt auf eine Leuchtturminsel, weil's dort auf einmal ein unabsehbar tiefes Loch gibt. Die Insel ist abgeschnitten von der Außenwelt, windumtost, die Wärterin verschroben, der Fährmann ein Arsch: Doch das „Shutter Island“-Dressing von Lemire und Zeichner Andrea Sorrentino überzeugt nur bis zur Hälfte. Dann wird's wirr. Das Problem ist nicht der Mix aus Illusion und Realität, sondern dass dem Leser kaum noch klar ist, was unser Geologe eigentlich grade durchmacht. Und ohne Angst um den Hauptdarsteller wird der Grusel zu oft zum „Hä?“
Die Quasselbande
Ich komme mehr und mehr zu dem Schluss, dass Hugo Pratt gerade zu Anfang seiner Karriere weit weniger gut schrieb als zeichnete. Schon „Corto Maltese“ fällt mir immer wieder als abenteuerlose Abenteuerserie ermüdend auf. Jetzt erscheint „Fort Wheeling“ neu, entstanden Anfang der 60er Jahre, und wieder quatschen sich die Helden den Mund fusselig und sagen am besten auch gleich nochmal dasselbe, was im Textkasten drübersteht, da wird der Leder- zum Laberstrumpf. Wenn man Glück hat, ist's wenigstens unfreiwillig komisch wie in der Antwort auf die Frage: „Waren es Indianer, die deine Eltern getötet haben?“ - „Ich glaube, ja. Die Indianer waren immer gut zu mir.“
Geschichten aus dieser Epoche hatte Pratt damals schon in „Ticonderoga“ erfolgreich erzählt, da hat ihm aber Hector Oesterheld das Szenario geschrieben, ein Unterschied wie Tag und Nacht. In „Ein indianischer Sommer“ hat Pratt dann für Milo Manara das sehr gute Skript geliefert, dafür kam „Fort Wheeling“ 20 Jahre zu früh. Doch: zum Serienstart gibt es knapp 20 Seiten mit zusätzlichen, für Pratt ungewöhnlich farbigen Zeichnungen, aus denen der Verlag verständlicherweise auch gleich das Covermotiv nahm. Das entschädigt ein bisschen für die Quasselei.
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Westerntitel feiern im Comic ein Comeback: Die Verlage legen Klassiker neu auf oder beleben das Genre neu. Lesen Sie, wo Sie ziehen sollten – und wo Sie steckenlassen können
Liegt’s am ziemlich hervorragenden Videospiel „Red Dead Redemption 2“? An der Suche nach einfachen Problemen und klaren Lösungen? Denn obwohl Western bei Kindern angeblich out sind, im Comic-Bereich sprudeln sie derzeit geradezu. Der „Tagesspiegel“ hat kürzlich eine Sammelgeschichte gemacht, und schon jetzt kann man wieder eine schreiben, ohne große Gefahr von Doppelungen. Sechs Titel finden Sie hier, die perfekte Anzahl, wie wir vom glorreichen Halunken Clint Eastwood wissen. Nicht alle sind top, aber jeder hat natürlich seinen eigenen Geschmack. Und jeder Revolver seinen eigenen Klang.
Punkte sammeln mit Nebel
Antonio Hernandez Palacios wird alt. Nicht schlecht, aber er scheint Mitte der 80er ein bisschen die Lust verloren zu haben. Der dritte „Mac Coy“-Sammelband lässt die absoluten Glanzpunkte vermissen, die aufregend inszenierten Seiten, die völlig aberwitzigen Farbkombinationen. Und die Storys sind immer noch nicht wirklich erstligatauglich. Diesmal pfuscht ihm die Geschichtsbegeisterung besonders deutlich ins Handwerk: Weil Mac Coy ja öfter historische Begebenheiten miterleben muss, wird diesmal deutlich, dass der Held längst über 20 Jahre hätte altern müssen – das wird dann schon etwas sehr wurschtig ignoriert. Aber trotz aller Nörgelei: Noch immer liefert jeder Band von Palacios einen wundervoll zerknitterten, verranzten, staubig verschwitzt stinkenden, authentischen Wilden Westen und gelegentlich auch etwas richtig Neues: Nach einer wundervollen Seite im strömenden Regen verlässt Palacios seine bewährte Strichtechnik. Für drei Seiten im dichten Nebel wechselt er zu Punkten, und das allein ist schon fast wieder den ganzen Band wert.
Mehr Möpse als Kawumms
Auf Anhieb erinnert der Stil von Paolo Eleuteri Serpieri ein wenig an Palacios. Und was die Stories angeht, sind sie vergleichbar nichtssagend. Aber Serpieri zeichnet sauberer, und was Action angeht, ist er in „Lakota“ zurückhaltender: Entweder liegt sie ihm nicht, oder er zeichnet einfach gern seitenweise Dialoge. Nachdem die aber mäßig sind und er nicht über allzu viele Inszenierungsideen verfügt, hat man sich rasch sattgesehen. Das hinterlässt eine rechte Enttäuschung, denn vom Untergang General Custers am Little Big Horn erwartet man doch ordentlich Drama und Kawumms. Da ist es nicht ungeschickt, dass Serpieri nie sein Haupt-Standbein vergisst, das Fantasy-Epos Druuna: Bei Serpieri besteht immer die Möglichkeit, dass einfach mal enorme Frauenbrüste ins Bild ragen. Muss man mögen. Paolo Eleuteri Serpieri, Lakota, Schreiber & Leser, 29,80 Euro
Die richtigen Vorbilder sind nicht genug
Lincoln, ein übellauniger Faulpelz begegnet dem lieben und goldgräberartig verlotterten Gott, der ihm die Unsterblichkeit schenkt und nebenher irgendeine fragwürdige Sache mit dem Teufel laufen hat. Eine Parodie also, und sie klaut bei den richtigen Vorbildern: Jerome Jouvray orientiert sich zeichnerisch an Christophe Blain, sein Bruder Olivier für das Szenario an Lewis Trondheim. Zündet leider nicht, weil: zu viele Konstruktionsfehler. Gott will Lincoln zum guten Menschen und Helden machen, Lincoln stört das aber nicht. Hm. Lincoln will meist seine Ruhe, macht aber doch meist was Gott will. Soso. Es gibt jede Menge Action, aber Lincoln riskiert als Unsterblicher ja nichts. Puh. Dazwischen sorgen ein paar ordentliche Gags und ein paar richtig heftige Szenen für allgemeine Unentschlossenheit. Schade eigentlich, ein neuer Lucky Luke (so wird „Lincoln“ gelegentlich beworben) wäre nett gewesen – aber das ist Lincoln leider nicht. Olivier, Jérôme & Ann-Claire Jouvray, Lincoln, Schreiber & Leser, Bd.1-2, je 14,95 Euro
Rasanter Rollentausch mit Revolver
Ist das ein Western? Eigentlich ist „Mondo Reverso“ was ganz anderes: Eine Geschlechterdebatte, für die Dominique Bertail und Arnaud le Gouëfflec einfach die angestammten Rollen vertauscht haben. Die Frauen haben die Hosen und die Revolver, die Männer die Kleider. Die Vorurteile sind dieselben, bloß umgekehrt: Männer haben immer Kopfschmerzen, Frauen saufen und furzen. Erstaunlich ist, wie weit Bertail/Gouëfflec mit diesem eigentlich recht banalen Dreh kommen – weil es zeigt, dass vieles bleibt, wie es ist: Die Verunsicherung, sich als Mann oder Frau falsch zu verhalten, die eigene Verblüffung, weil es plötzlich Frauen sind, die sehr detailreich Köpfe wegballern und sich einen Dreck um Männer scheren. Wie gesagt: Ein simpler Dreh, und dennoch ist das Ergebnis überraschend irritierend und häufig auch komisch. Aber ist das ein echter Western? Eher zufällig, das Setting hätte man auch im Weltraum oder im ritterlichen Mittelalter durchspielen können. Die Landschaften sind dennoch sehr ansehnlich geraten, und harte Frauen, die einen Revolver, eine Winchester oder einen Sattel herumtragen, einen vollbärtigen Typ im Kleidchen hinter sich herziehend, all das wirkt natürlich deutlich cooler mit einer Zigarette oder Eastwoods Zigarillo zwischen den Zähnen – und den gibt’s im Weltraum eher selten.
Rache und Radau
Ein einarmiger Held in einer völlig verwahrlosten Welt: Klingt ein bisschen nach „Für ein paar Dollar mehr“, und es gäbe schlechtere Vorbilder. Leider fehlt jede Doppelbödigkeit, und damit morden und vergewaltigen die Schurken letztlich nur noch, damit es einen guten Grund zur Rache gibt. Das Ganze kommt in hübschen, aber letztlich handelsüblichen Bildern. Nice to have, genauso nice to have not.
Lederstrumpf mit Schatzinsel-Aroma
Klassisch, aber neu: „Corto Maltese“-Schöpfer Hugo Pratt hat die Serie „Ticonderoga“ gezeichnet, von Hector Oesterheld („Eternauta“) stammt die Story um den titelgebenden jungen Waldläufer, die in den 50ern in Argentinien erschien. Wir sind im britisch-französischen Krieg um Nordamerika, Lederstrumpf-Szenario also, aber aus Jungen-Sicht, der „Schatzinsel“-Perspektive. Das ist gleich dreifach gut: Einerseits sympathisch altmodisch, wird andererseits gerade in Anbetracht des jungen Zielpublikums erstaunlich schonungslos gestorben und getötet. Und Pratt tuscht die Action „Prinz Eisenherz“-würdig, Natur und Landschaft mit viel Sinn für großes Kino, und all das in erstaunlich lebendigem schwarz-weiß, obwohl ihm das Querformat anfangs nicht mal Platz für Splashes lässt. Erstmals auf deutsch, schön gebunden, im Schuber mit vielen Extras – Zeit war’s!