Viel mehr als nur Graphic Memoir: Kristen Radtkes Sachcomic „Seek You“ ist eine spannende Einladung zum gemeinschaftlichen Blick auf uns selbst
Das hier ist eine echte Rarität: Ein Titel, der sich aus meinen Outtakes wieder rausgelesen hat. Der also eine gewisse Zeit brauchte. Klingt nicht so comicverführerisch? Kommt noch schlimmer: Trendthema „Einsamkeit“. Das spielen sie jetzt rauf und runter. Und ein richtiger Comic ist’s auch nicht, mehr so ein illustrierter Text, wie bei Liv Strömquist. Eben eigentlich Outtake-Material. Wieso ist also Kristen Radtkes „Seek You“ trotzdem viel besser?
Das Tempo richtig einteilen
Es hat etwas gedauert, bis ich das richtige Tempo für das Buch gefunden habe: Man liest es nicht in einem Haps weg, weil man ins Grübeln kommt. Radtke erörtert nämlich unterhaltsam, aber auch extrem stringent. Erst das zweite Kapitel hat mich richtig eingefangen: Radtke erzählt von ihrer Fernseherfahrung, allein in einer fremden Stadt, wie sie gern abends zu Sitcoms switcht, wo sie alle Charaktere kennt wie alte Freunde. Und weil dort alles familiär und vertraut wirkt. Dabei erzählt sie auch die Geschichte des in Sitcoms eingespielten Archivgelächters.
Das wird zwar oft als bizarre Witzanzeige verspottet, hat aber inzwischen längst noch eine andere Funktion: Als Geselligkeitsimitat vermittelt es dem Zuschauer vor der Glotze die wohlige Illusion, weniger allein zu sein. Von da spinnt Radtke den Faden weiter, über den Unterschied zwischen allein sein und einsam, den Zusammenhang zwischen Wohlstand und Einsamkeit, die Glorifizierung der Einsamkeit – aber auch den Hang zur Paranoia. Und weil ich gerade erst einen KI-Sachcomic bemängelt habe, interessiert mich jetzt, was Radtke anders und besser macht.
Vom Wohlstand zur Paranoia
Erstens verpackt sie die Debatte nicht in eine Spielhandlung, was ja schon bei diesen ganzen TV-Dokus nervt, wenn siebtklassige Schauspieler schlecht synchronisiert das Geschichtsbuch aufsagen. Sie hält stattdessen einen Monolog. Weil aber Monolog immer ein abschreckender Haufen Text ist, portioniert sie ihn zweitens geschickt. Auf einer Doppelseite können ganze Absätze stehen, aber eben auch nur zwei, drei Sätze. Was uns zu drittens bringt: Dynamik.
Die ehemalige Art-Directorin arrangiert unser Lese- und Denktempo geschickt, indem sie auch mal nur einen Satz zu einem Splash stellt, wenn der Kopf mal länger bei einem Gedanken verweilen soll. Wozu (viertens) übrigens auch gehört, dass man nicht einfach mal schneller und mal langsamer doziert, sondern dass man auch die dafür geeigneten Gedanken findet. Fünftens weiß sie auch, dass man in solchen Fällen nicht einfach abbildet, was man ohnehin schon im Text hat.
Bandbreite Gedanken
Wenn man beispielsweise vom Siegeszug des Fernsehens und vom bequemen Daheimbleiben erzählt, zeigt sie statt einer Familie vorm Fernseher das zeitgleich erfundene TV-Dinner zum Aufwärmen. Damit erweitert sie klug die Bandbreite der Gedanken, verhindert das Abnicken und untermauert zugleich ihre Argumente – eine Methode, die sich wohltuend vom bildlosen Kästchenvollschreiben einer Liv Strömquist unterscheidet.
Das Schöne ist, dass die 37-Jährige so eben nicht einfach weichgekochtes „Food for thought“ liefert, sondern Gedanken al dente: Denkansätze mit einem gewissen Widerstand, in die man gerne beißt und die man vorm dem Schlucken auch nochmal durchkauen mag. Probieren Sie’s! Ich empfehle dazu einen guten Rotwein.
Die Outtakes (14): Wanderer aus Norwegen, Kommunisten aus Schweden und Miesepeter aus dem Reich der Tiere
# metoo
Das Thema „Jakobsweg“ scheint seit Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ (2006) immer weiterzugehen. Comiczeichner Jason liefert jetzt mit „Ein Norweger auf dem Jakobsweg“ seine Version dieser Mischung aus Wandern, Selbstfinden und Fasten, und die unterscheidet sich von den ganzen anderen Jakobswandereien erstaunlich wenig. Man muss sich jeden Morgen den Weg erst suchen, weil er so gut/schlecht beschildert scheint wie viele andere Wanderwege. Man begegnet auf den Etappen immer denselben Leuten, nämlich denen, die etwa im selben Tempo unterwegs sind. Und den Langsameren, die man ein-/überholt. Die Dialoge ähneln und wiederholen sich und obwohl Jason das mild-ironisch thematisiert, wird es allein dadurch noch nicht komischer. Und durch den trockenen, schwarz-weißen Stil kommt auch die möglicherweise hübsche Landschaft nicht recht zur Geltung. Aber wer weiß, wenn man das alles selbst mitgemacht und dreizehn andere Bücher dazu gelesen hat, dann wälzt man sich vielleicht am Boden und japst: „Irre! Genauso isses!“
Bepoppte Eigenheime
Schweden in den 70ern. Ulrik und Siv sind verliebt. Siv hat zwei Kinder und steckt noch in einer faden Ehe. Ulrik ist überzeugter Betonkommunist. Kann das gutgehen? Ich will's nicht verraten, aber ich vermute: Je älter Sie sind, desto eher liegen Sie richtig. Was ich sagen kann: Das betrübliche Szenario von Anneli Furmarks „Roter Winter“ ist präzise beobachtet. Die bürgerliche Fassade, die kommunistische Fassade, nichts davon gibt Halt oder Hoffnung. Und Siv grübelt recht treffend über die schwedische Kleinhäuschenlandschaft, dass es womöglich „nur eine Sache gibt“ die das Ganze „am Laufen hält: Dass die Paare darin miteinander schlafen. ... Wenn sie damit aufhören, stehen die Häuser zum Verkauf. An ein Paar, das noch miteinander schläft.“ Bei allem gekonnten Trübsinn hat mich die Geschichte dann zum Schluss doch noch gekriegt. Warum dann Outtake? Vor allem, weil ich mir ein bisschen mehr Erkenntnis für heute erhofft hatte. Scheinheilige politische Sturköpfe in einer wunderlichen Gesellschaft hat die Realität ja ausreichend zu bieten.
Zuckerlieb
Es gibt was Neues von Josephine Mark, der „Trip mit Tropf“erin. Also, teilweise, weil sie den „Bärbeiß“ nur gezeichnet hat, der Text stammt von Jutta Bauer und Annette Pehnt. Die Geschichten sind relativ simpel: In einem asterixniedlich geratenen Dorf leben lauter nette Tiere und das harmoniesüchtige Tingeli. Dann zieht der Bärbeiß ein, in Miesepeter, der alle anraunzt und am liebsten daheim bleibt. Das Tingeli nimmt sich seiner an, und knackt natürlich die harte Schale. Klingt nett, ist aber nicht umwerfend: Schuld ist ein Konstruktionsfehler. Während nämlich das Tingeli so schön unerträglich zuckerlieb ist, weil es Streit nicht erträgt, ist der Titelheld bärbeißig, weil… hm, einfach so. Anders als bei „Trip mit Tropf“ bilden beide keine Zwangsgemeinschaft, sondern könnten die Bemühungen genauso gut einstellen, grade der Bärbeiß käme damit gut klar. Aber: Ist das Kindern wichtig? Da entscheiden vermutlich eher Optik und Lacher, bei beiden kann „Der Bärbeiß“ ordentlich punkten.
Annette Pehnt, Jutta Bauer (Text), Josephine Mark (Zeichnungen), Der Bärbeiß, Kibitz Verlag, 15 Euro