Aus aktuellem Anlass: ein Comic mit einem lügenden Präsidenten, einem wahnsinnigen Gesundheitsminister und unkontrollierbaren Megakonzernen

Dieser Comic ist schwer zu finden, leider, weil: vergriffen. Dabei wäre eine Neuauflage dringend nötig. Die Rede ist von „Martha Washington – Ein amerikanischer Traum“, erfunden vor über 30 Jahren.

Martha lebt in den USA, oder besser: In dem, was von ihnen in jener Zukunft übrig ist. Sie ist ein schwarzes Mädchen, aufgewachsen in Cabrini Green, einem gigantischen Sozialbau, in dem arme Familien in Schuhschachtelabteilen mit Fernseher und Mikrowelle untergebracht sind bzw. ruhiggestellt werden. Gewalt, Missbrauch, Hass sind dort an der Tagesordnung. Bildung wäre eine hilfreiche Option, aber Martha lernt in überfüllten Klassen nach einem idiotischen Lehrplan, der einen dämlich grinsenden Präsidenten bejubelt, der seit mindestens 14 Jahren im Amt ist.
Präsidentenlob steht im Lehrplan
Als auch noch Marthas Lieblingslehrer erschlagen wird, büxt sie aus, hält sich als geschickte Diebin über Wasser – und rettet sich dann in die Armee. Aber was heißt hier „Armee“?

Die Armee nennt sich Pax-Force, eine Friedenstruppe zur Rettung der Reste des Regenwalds. Pax kämpft nicht mehr gegen andere Länder, sondern gegen Firmen wie den „Fat Boy“-Burgerkonzern, während die Heimat im Chaos versinkt. Nazis bekämpfen militante Schwule, ein wahnsinniger Gesundheitsminister macht sich mit einer Armee geklonter blonder Kampf-Amazonen so selbständig wie die Nachkommen der indianischen Ureinwohner. Als der allmählich recht mumienhafte Präsident die inzwischen vierte Wahl zu verlieren droht, greift er zum Kriegsrecht, landet aber nach einem Attentat im Koma. Der überforderte Landwirtschaftsminister springt ein, wird aber bald vom eigenen Kabinett ermordet, und das Land zerfällt in fünf oder sechs Teile.

Martha ist immer mittendrin, eine tapfere Soldatin, die versucht das Richtige zu tun und sich in einer Welt zu behaupten, die voller Intrige ist, Eigennutz, Fanatismus und Schlamperei. Die Welt versinkt in einem Chaos, von dem letztlich niemand profitiert außer irgendwelchen Miliz-Chefs und, nun ja, dem Präsidenten, der sich noch ein paar weitere Amtsjahre sichert.
Wie es so weit kommen konnte?
Der Berater-Derwisch
Als der Comic erschien, konnte ich mir vieles davon nicht vorstellen, auch mangels Kenntnis der Zerrissenheit der USA. Doch morgen beginnt ein eigenwillig tanzendes, dauerlügendes Grinsgesicht seine zweite Amtszeit, beraten vom vorsitzenden Derwisch einer kaum noch zu kontrollierenden Megafirma, und siehe da: den irren Gesundheitsminister haben sie auch schon an Bord. Und wer glaubt, das sei nicht zu toppen, der darf sich daran erinnern, was Grinsgesicht, Derwisch und der Gesundheits-Irre als erstes gemacht haben, als sie sich gefunden hatten. Genau, sie fraßen den Dreck von „Fat Boy“-Burger.
Frank Millers düstere Ahnung
Angesichts der Aktualität kann ich eine Neuauflage nur dringend nahelegen. Riskant kann sie eigentlich nicht sein, der Autor ist schließlich Frank Miller – jener Frank Miller, der nicht nur die gut verkäufliche „Sin City“-Serie erfand, sondern auch mit der „Rückkehr des Dunklen Ritters“ überhaupt den ganzen höchst lukrativen Superhelden-Reboot in die Wege leitete. Für die zugänglichen Zeichnungen verantwortlich ist Dave Gibbons, der Gestalter der „Watchmen“, viel mehr Erste Liga ist also kaum möglich.
Mögen die Zeiten weniger finster werden als sie aussehen.
Frank Miller (Text), Dave Gibbons (Zeichnungen), Martha Washington – ein amerikanischer Traum, Panini, gebraucht erhältlich, beispielsweise bei Medimops, Rebuy oder via Booklooker.
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Weihnachten, die letzte Insel der Seligen. Kinder duften nach Bratäpfeln, Zuckerwatte ersetzt flächendeckend den Schnee und in der allgemeinen Besinnlichkeit entdecken vereinzelte Amerikaner, was sie da eigentlich gewählt haben. Alles könnte so schön und friedlich sein, aber vor das Fest haben die Götter die Geschenke gesetzt. Woher nehmen und nicht stehlen? Aber gottseidank lesen Sie ja das richtige Blog zur richtigen Zeit.
Für Leute mit Tisch

Tja, damit kann man natürlich praktisch nichts falsch machen: Man geht zum Taschen-Verlag und erwirbt einen gefühlten Zentner Premium-Comics, beispielsweise den zweiten Sammelband der Marvel-Avengers-Abenteuer. Schön verschubert und verpackt in Originalgröße. Vorsicht: Originalgröße bedeutet hier die Größe der Originalzeichnungen, also die doppelte Heftgröße. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil man die Hefte in diesem Umfang früher niemals unter der Bettdecke hätte lesen können. Sondern weil Sie heute berücksichtigen sollten, dass sowas auch fürs Sofa nicht so handlich ist: Beschenkte sollten für ermüdungsfreies Lesen wenigstens einen soliden Tisch in der Wohnung haben, eine hauseigene Bibliothek nebst Ohrenbackensessel wäre optimal. Bei Gefallen sind dann auch weitere Geschenk-Ideen für die nächsten Jahrzehnte gesichert, Sie müssen nur daran denken, die unteren Stockwerke ggf. baulich abzusichern. Aber wenn das alles bedacht ist: Mehr Marvel geht einfach nicht.
Für Lebende
Ein weiterer Teil der inoffiziellen Serie: Ist es überhaupt ein Comic? Tom Haugomat liefert mit „Ein ganzes Leben“ eine chronologische Erzählung in Jahresschritten. Rodney wird geboren und altert, und für jedes Jahr gibt es ein Bild Rodneys mit Ortsangabe sowie gegenüber etwas, das Rodney sieht. Was nicht nur eher wortlos klingt, sondern es auch ist. Aber es guckt sich sehr gut an: Fast schon meditativ blättert man durch die elegant designten Jahre, stets nur aus türkis/hellrot/ockergelb/weiß/schwarz zusammengesetzt. Das Konzept erinnert leicht an „Hundert“ von Valerio Vidali/Heike Faller: doch die schubsen noch mit kurzen Sätzen die Nachdenklichkeit an, während Haugomat die gesamte Kopfarbeit den Lesern freistellt. Funfact 1: beide Bände kommen aus der Schweiz. Funfact 2: „Ein ganzes Leben“ ist offenbar noch von einer echten Übersetzerin übersetzt, obwohl da wirklich nicht viel zu übersetzen war. Zu wünschen wäre es, aber vielleicht ist Philippa Smith auch irgendein Bot…
Für Tretende

Man möchte dringend, dass Max Julian Ottos „Es geht auch ohne Ehrgeiz“ funktioniert: Da ist so vieles sympathisch. Die Geschichte um den mittelalten Sohn eines verstorbenen Radprofis, der selbst das Radeln hasst, aber ein Café für Radfahrer eröffnet und in der Corona-Krise ins Zweifeln kommt. Die guten Beobachtungen, die professionellen, aber nicht zu anbiedernden Zeichnungen. Ottos Mut, den 200-Seiten-Comic einfach im Selbstverlag zu publizieren, in tadelloser Buchhandelsqualität, das fehlt sich nichts. Dazu fahr ich selber gern Fahrrad. Aber weil viele Einzelmomente noch keine gute Story ergeben, kommt die Geschichte selbst über nett leider nicht hinaus. Wobei: Der Radlersohn, der wieder zum Rad findet, das ist sehr, sehr gutes Wohlfühlmaterial, geeignet für Sat 1, ARD, ZDF, Familienfernsehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für politisch Denkende

Die Zukunft sieht düster aus. Die USA fallen als Demokratie weg, gehen außenpolitisch zur Schutzgelderpressung über, die anderen Staaten finden Einigkeit zu anstrengend und kochen nach und nach ebenfalls nationale Süppchen, die logischerweise immer dünner werden. Und jeder, der festzustellen wagt, dass es früher irgendwie besser war, wird als innenpolitischer Feind verfolgt. Nein, das gibt es nicht als Comic, das ist die reale Zukunft. Es gibt aber einen Comic, der im Vergleich dazu tröstlich wirkt: „Die Straße“ von Manu Larcenet nach dem Roman von Cormac McCarthy. Das Tröstliche: Diese Zukunft ist derart entsetzlich, dass sie Trump, Putin und Sahra Weidel zusammen nicht hinkriegen. Jedenfalls nicht in den nächsten zehn Jahren. Oder fünf.
Für Versöhnungsbedürftige

Wo treffen sich Gutmensch und Impfgegner? Genau, im Reformhaus. Und für dessen Monatszeitung „Reformhauskurier“ hat der große, leider schon tote Cartoonist Bernd Pfarr von 1988 bis 2004 den Comic-Strip „Alex der Rabe“ gezeichnet - der jetzt erstmals gesammelt erscheint. Alex ist eine Art Parallel-Donald Duck samt einer Daisy (Nicki), einem Gustav Gans (Dietrich), Düsentrieb (Professor Alonso). Band 1 ist jetzt erschienen und zeigt eine interessante Mischform: Einerseits sind die Episoden alle kindgerecht, mit eher schlichter One-Pager-Pointe wie im Micky-Maus-Heft. Aber bei mindestens fünf Episoden habe ich extrem gekichert, nicht zuletzt bei der mit dem Titel-Gag. Zusätzlich geschenkgerecht ist die Aufmachung des Buchs und natürlich die munter angeschrägte Pfarr-Optik. Und politisch wird’s – überhaupt nicht. Was wäre an Weihnachten willkommener?
Für lau

Okay, das geht nicht für jeden, aber für viele in NRW und je nach Reiselaune auch darüber hinaus. Und es kostet: nix, wenn Sie ein Deutschlandticket haben, vielleicht sogar zweimal nix. Das Geschenk geht so: Am zweiten Weihnachtsfeiertag nehme man die Beschenkten an der Hand, steige in einen Zug und fahre nach Dortmund. Am Hauptbahnhof raus, ca. 73,4 Meter über den Königswall schlurfen und hinein in den Schauraum comic + cartoon mit der neuen Ausstellung „Black Comics“: Alles rundum Bestseller wie „Black Panther“ oder Eigenwilliges wie „Aya aus Youpogon“. Mit etwas Glück hat Ausstellungsmacher Alexander Braun für Sie sogar den lesenswerten Katalog noch passend zum Mitnehmen fertiggedruckt, zum günstigeren Ausstellungspreis. Vielleicht noch zwei Kaffeebecher einpacken, für den Glühwein daheim, einen Happen essen, dazu ein bis zwei Pilse einwirken lassen und sich der Bahn für die Heimfahrt anvertrauen. Kann man eigentlich alle Jahre wieder machen...
Ach so, ich hab ja sieben Tipps versprochen: Im Notfall schenken Sie einfach einer Comicfanin/einem Comicfan Ihrer Wahl ein Abo dieses Blogs... Kostet ebenfalls nix, ist schnell gemacht und auch noch Sekunden vor der Bescherung verfügbar.
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Die Outtakes (19): Ein schlagkräftiger Nachfolger, ein geduldiger Gruselmanga und eine umständliche KI

Vererbter Job als Hauptfigur
Die Serie um den „Donjon“ hab ich schon mehrfach empfohlen: Sie ist witzig, ironisch, und das für Fantasy-Freunde und -Skeptiker zugleich. Außerdem lernt man immer neue Zeichner kennen. Trotzdem ist nicht jeder der bisher rund 60 Bände gleich gut. Ein prima Band funktioniert (für mich) auch ohne dass man die ganze lange Geschichte kennt (weshalb die Serie anfangs auch kreuz und quer durch die Erzählzeit springen konnte). Der neue Band „Programmänderung“ schafft das nicht. Ist auch schwer, weil der Band am bisherigen Ende des Zyklus spielt. Obendrein wird die Story durch einen Trugschluss geschwächt: Serienhauptfigur Herbert mochte man wegen seiner verschrobenen Schwächen, aber deswegen wird doch nicht gleich dessen Neffe, Sohn, Enkel oder sonstwas ebenfalls gleich als Hauptfigur interessant. So kann der Band trotz aufgeweckter, knallbunter Action leider die Erwartungen nicht recht erfüllen.
Lovekräftig

Also: Das hier mag garantiert jemand, nur ich bin’s leider nicht. Gou Tanabe macht derzeit aus dem Horror von H.P. Lovecraft sehenswerte Mangas – beispielsweise das hier abgebildete „Grauen von Dunwich“. Tanabe serviert das Ganze erfreulich düster und vor allem sehr, sehr geduldig, mit geschickten Verzögerungen und ausgesuchtem, aber nicht zu starkem Splattereinsatz. Ich habe allerdings leider oft ein Problem mit Lovecrafts Schwurbelhorror (auch wenn ich „Die Farbe aus dem All“ recht gut fand). Doch deshalb sollte man Tanabes atmosphärisch sehr passende Adaptionen hier keinesfalls unter den Tisch fallen lassen, gerade als Lovecraft-Fan. Ausprobieren!
Verpasste Vorteile

Ein ehrgeiziges Projekt, mit Tücken. IT-Unternehmer Laurent Daudet und Zeichner Appupen greifen das aktuelle Thema KI auf. Und weil Daudet aus der Branche kommt, stricken sie die einfachstmögliche Geschichte um sich selber: Ein junger KI-Unternehmer steht kurz vor der Übernahme durch einen der Big Player und diskutiert unter anderem mit einem Comic-Zeichner über die Zukunft. Ist KI gut oder schlecht, was kann schiefgehen, wer wird sie nutzen und wie? All das wird debattiert, die einzige Frage, die offenbleibt, ist: Warum als Comic? Denn die Vorteile des Mediums bleiben weitgehend ungenutzt, Appupen illustriert recht brav dem Text hinterher, und weil dieser auch die Richtung vorgibt, wird prompt sehr viel geredet und wenig gezeigt. Was dazu führt, dass man für diese Comicversion mehr Zeit braucht als für einen fundierten Essay desselben Inhalts. Aber, zugegeben: So gibt’s mehr Bilder.