Gut abgeschmeckte Zeitreise: Alfred entzuckert seine sommerheiße Süditalien-Nostalgie „Maltempo“ mit einer gaaanz leichten Bitternote
Ist es Realitätsflucht? Nostalgie? Gerade erst erschien die (eher mäßige) Zwei-Jungs-in-einem-Citroen-in-den-80ern Geschichte „Transit Visa“, jetzt erscheint mit „Maltempo“ von Alfred eine ähnlich gelagerte, aber dafür deutlich bessere Variante, die fast nur hauchdünn am Wohlfühl-Comic vorbeischrammt. Zu deutsch: Das Ding macht einfach Spaß!
Sonnendurchglüht und handyfrei
Weil: Es spielt schon mal in Süditalien, in einer Kleinstadt. Auch das kann man sehr düster anlegen, wie in der „Stadt der drei Heiligen“. Aber Alfred (bürgerlich Lionel Papagelli, Franzose) wählt die sonnige, leicht naive Variante, die kürzlich schon in „Atlan von den Kykladen“ so angenehm nach Urlaub aussah. Und Alfreds Geschichte handelt auch von Dingen, die weit erholsamer sind als Klima oder Trump: Ob’s die 80er sind, ist nicht ganz klar, aber es gibt keine Handys, kein Internet, die Jungs fahren mit Motorrollern über die sonnendurchglühten Pisten, und ihre Musikinstrumente sind zu neu für die 60/70er. Mimmo heißt der 15-jährige Held, der für einen Talentwettbewerb seine alte Band wieder zusammenholt. Den arroganten Cesare, den schlichten Mortadella, den Frauenhelden Guido. Klingt bis jetzt ein bisschen fad, oder?
Nostalgie mit sanfter Bitternote
Alfreds geheime Zutat ist eine zarte Bitternote, die sich durch den ganzen Band zieht. Denn eigentlich ist der ganze Scheiß von heute schon vorhanden: Es gibt mysteriöse Anschläge auf Hotelneubauten: Touristenkritik. Die Kinder spielen „Chef schlägt Arbeiter“. Und obwohl dem Teen Ciro die Mussolini-Büsten vom Lastendreirad purzeln, ist man von Migranten nur genervt, wählt aber deshalb noch nicht gleich naziartig. Und außerdem sind ja andere Dinge viel wichtiger: die Musik. Und die Mädchen wie Alba und Carla, die so viel mehr über diese Mann-Frau-Sache zu wissen scheinen und in deren Nähe man plötzlich nur Unfug brabbelt.
Sonne und Meer und Rock’n’Roll und Mädchen und das ganze Leben, das vor Mimmo liegt. Verschwitzte Nächte in kühlem Dunkelblau nach der grellweißen Tageshitze. Guido wird nur von den örtlichen Mafiosi gefragt, wann er denn endlich mal was für sie erledigt, aber er ist noch nicht im kriminellen Sumpf verschwunden. Überhaupt ist alles noch nicht so verfahren, lässt sich jedes Problem noch lösen, und genau das lässt einen noch sehnsüchtiger in diese sonnig meerblau grillenverzirpt abgemilderte Vergangenheit eintauchen.
Nicht zu unterschätzen ist übrigens, wie geschickt Alfred die Klischees zwar abruft, aber zugleich auch umgeht: Etwa, indem er statt der Hitze draußen das komplette Gegenteil drinnen zeigt – Mimmo, der an den Gemüsekisten vorbei durch einen Perlenvorhang (!) den düsteren Lebensmittelladen von Mortadellas Vater betritt. Die Würste hängen von der Decke, die Regale sind vollgestopft mit Mehl und Waschmittel, eben molto Alimentari und zero Supermercato. Und ganz nebenbei präsentiert Alfred auch eine sehr hübsche Lösung für das immer wieder knifflige Problem „Musik als Bild“ (s.u.).
Gut, oder? Oder finden Sie das Musikbildproblem nicht so dringlich? Ist auch kein Problem, denn „Maltempo“ lässt sich auch als unschuldiges Sommervergnügen genießen, auf der Liege, im Schatten am Strand oder während Ihnen außen gerade irgendein flussgewordener Bach die Gartenmöbel wegschwemmt – Himmel, vielleicht muss man auch nicht ständig an diese blöde Gegenwart denken...
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Bittertrüb, hässlich und perspektivlos kriminell: So wie im Comic „Der Schleuser“ haben Sie die Lagunenstadt garantiert noch nicht gesehen
Es dauert noch ein bisschen, bis der neue Gipi erscheint, aber bis dahin empfehle ich Ihnen schon mal eine vergleichbar erstklassige Gangsterchenballade. Sie heißt „Der Schleuser“, ist von Christophe Dabitch und Piero Macola, und – bitte? Sie wissen nicht, was eine Gangsterchenballade ist? Das müssen wir ändern. Dringend!
Abgehängter Touristentraum
Dass Sie‘s nicht kennen ist okay, das Genre ist brandneu, ich hab’s grad erfunden: Es geht dabei um Jungs irgendwo zwischen 14 und 17, die sich erwachsen fühlen, es aber nicht sind. Die Eltern sind eher arm, abwesend, arbeiten oder saufen, die Jungs machen kleinkriminellen Quatsch, meist in abgehängten Gegenden. Diesmal etwa in Venedig. Wobei, hm: Ist denn Venedig überhaupt abgehängt?
Das ist überhaupt eine der Entdeckungen dieses Comics: ein Venedig, das kaum jemand kennt. Paolo sucht seinen verschwundenen Vater, der als Fischer in der trüben Lagune arbeitet. Und so klappert Paolo alle möglichen Verstecke ab, die Inseln, die Fischgründe neben den Fabriken, Vaters Stammnutte. Nebenher versucht er, mit seinen drei Freunden zu Geld zu kommen: Sie verkaufen für Drogenhändler rosa Pillen, müssen aber feststellen, dass jemand ihr Versteck geplündert hat – jetzt haben sie keine Ware mehr und sind verschuldet. Bei Leuten, die keinen Spaß verstehen. Und auf Paolos Spuren sehen wir ein Venedig, das Touristen meistens entgeht.
Leere Gassen, die's wirklich gibt
Herbstlich ungemütlich ist es da. Wir sehen die Werften und abgelegenen, heruntergekommenen Schuppen. Die illegalen Arbeiter in panischer Angst vor Polizeikontrollen. Die Menschenschmuggler. All das gibt es tatsächlich: Wer sich Venedig von der Festlandsstadt Mestre oder (wie ich selber grade eben) per Fahrrad über die Laguneninseln nähert, sieht mitunter erstaunliche Hässlichkeit. Das von Pfostenpyramiden gesäumte Wasser wirkt mitunter so trüb, dass man kaum glauben mag, dass etwas darin lebt. Und auch die leeren Gassen, die der Comic für eine einsame Verfolgungsjagd nutzt, existieren wirklich.
Während sich auf den Passantenhighways zu den Hotspots die Touristen samt Rollkoffern gegenseitig halb tottreten, ist nur wenige Ecken weiter kein Mensch mehr zu sehen. Wo kein Selfie mit Wiedererkennungswert winkt, geht man gar nicht erst hin. Jenseits der großen Touristenfassaden existiert ein reales Schattenvenedig, und „Der Schleuser“ führt uns mitten hinein in diese Stadt ohne Zukunft.
Stadt ohne Zukunft
Die Bilder, mit denen Piero Macola Dabitchs Szenario illustriert, sind wortkarg, oft ruhig, aber nicht idyllisch. Die Landschaften sind einsam, die Häuser will niemand fotografieren und eher als hierher ziehen die Leute von hier fort. Was den Traum von Venedig ungewöhnlich konterkariert: Man sieht sich die Bilder so gern an, weil man gerade eben nicht da leben muss.
Und nach Zuklappen des lesenswerten Comics sofort wieder daheim ist.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier:
Ausflug in die Vergangenheit? Bildstarker Ägäis-Urlaub? Judith Vanistendaels Coming-of-age-Comic „Atan von den Kykladen“ vereint beides
Manchmal ist weniger mehr: Eine schlichte Geschichte über einen schlichten Jungen, der schlicht erwachsen wird. In einer vergleichsweise schlichten Welt: Griechenland, vor viereinhalbtausend Jahren. Und nein, es führt grade mal keiner Krieg, es wird auch nicht mythisch-mystisch. Eigentlich wird nur getöpfert, gemeißelt und geschmirgelt in Judith Vanistendaels „Atan von den Kykladen“.
Kleine Momente - große Wirkung
Vanistendael mag ich, seit sie mit „Als David seine Stimme verlor“ eine bewegende Sterbebegleitung in Comicform hervorgezaubert hat. Was damals gefiel: Die Belgierin blies nichts auf, war aber trotzdem nie langweilig, weil sie geschickt auf die kleinen Momente achtete. Und letztlich ist das auch die Methode, die „Atan von den Kykladen“ so überzeugend macht. Atan ist irgendwo zwischen 14 und vielleicht 17, und seine Eltern haben bemerkt, dass er beim Töpfern nicht nur geschickte Finger hat, sondern auch recht gute Ideen. Also schicken sie ihn nach Naxos in die Lehre, in die Marmorwerkstatt von Meister Dario.
Mehr braucht es eigentlich auch nicht: Wir sehen Atan beim Lernen zu und erfahren nebenher selber ein bisschen was. Wie man so lebte im Griechenland der bronzezeitlichen Kykladenkultur. Wie man zerbrochene Figuren repariert. Wie man Farben mischt. Wie sich Kunst verbreitet und gefeiert wird. Es ist sowas wie eine „Sendung mit der Maus“, aber charmant an Atan entlang erzählt und einfallsreich illustriert.
Sonniges Weiß, kühles Blau
Vanistendael lässt die Bilder harmonisch ineinander übergehen, taucht alles in diese schöne Kombination aus sonnigem Grellweiß und kühlem Meerblau, die einem manchmal so abgedroschen vorkommt, die sich aber doch immer wieder als entspannend-frisch herausstellt. Zumal die 49-Jährige hier vorwiegend große Panels einsetzt, auf denen sie die lesenden Augen sanft spazieren führt. Tatsächlich taucht man in ihr Griechenland ein wie in eine schöne Schüssel Joghurt mit Honig und Walnüssen. Klingt nicht nach viel, aber das muss man erst mal hinbekommen.
Die Inspiration zum Comic stammt von echten Figuren im Pariser Louvre, die natürlich im Making-of-Teil des Comics abgebildet sind. Wer hingegen mehr von Judith Vanistendael selbst sehen, wissen und hören will: Süddeutsche Comicfans können sie am 16. April gratis im Münchner HP8 erleben. Und wer weiß, vielleicht kriegt Vanistendael bis dahin sogar mal einen Eintrag in der deutschen Wikipedia.
Sie wollen Ihren Senf dazugeben? Dann hier: