Reportage im Rotlichtbezirk: "Hinterhof" wirft einen Blick hinter die Kulissen des SM-Geschäfts. Kann der Band die Vorteile des Comic-Journalismus nutzen?
Die Sache mit dem Sex ist immer wieder drollig. Seriöse Auseinandersetzungen damit sind so schwierig wie die Herstellung von Qualitätspornografie, weil man so schwer an den Verstand und die Geilheit gleichzeitig appellieren kann. Einen mutigen Versuch startet jetzt der Avant-Verlag mit „Hinterhof“: eine Sex-Comic-Reportage über eine Berliner Domina.
Doch die eigentliche Frage heißt: Kann ein Comic was anderes erreichen als die Durchschnittsreportage von Pro 7, ZDF 37 Grad, RTL, Stern TV? Womöglich sogar mehr? Und die Antwort lautet: ja. Theoretisch.
Die TV-Konkurrenz ist limitiert
Denn die TV-Standardreportagen sind durch ihren Zwang zum Realbild stark eingeschränkt: Sie müssen filmen, was sie erzählen wollen. Also kann man ihre Inhalte inzwischen so zuverlässig auf- wie vorhersagen: Da wären das Studio und die Gerätschaften. Die Domina erzählt üblicherweise, wie sie zu ihrem Job kam. Sie zählt die Spielarten der BDSM-Szene auf, sagt, was das Schrägste war. Wir lernen denjenigen ihrer Besucher kennen, der sich filmen lässt. Sie spielen uns was Beispielhaftes vor, aber die Kamera stört beim Spiel. Dann sehen wir noch die Domina, wie sie sich daheim ein Ei in die Pfanne haut: Schau an, auch die Domina isst ein Omelette. Wie ein ganz normaler Mensch.
Der Comic-Journalist kann hingegen Inhalt und Bild getrennt recherchieren und verarbeiten. Er kann Bilder frei komponieren, und damit den Zauber sichtbar machen, wenn (ungewöhnlicher) Sex zwischen zwei Menschen funktioniert. In diesem Fall: Obwohl oder weil eine der beiden beteiligten Personen das auch noch beruflich moderiert. Was sich dann im Idealfall so auswirken könnte wie in „Brokeback Mountain“: Nichtschwule könnten verstehen, wie und warum zwei Typen, die ihre Lust normalerweise verstecken müssen, plötzlich aufblühen (oder scheitern). Das ist also der Hauptpreis, den „Hinterhof“ einheimsen könnte.
Und? Wird der Preis abgeholt?
Extraschlenker zur Prostitution
Naja. Wir sehen die Domina, ihre Gerätschaften, das Studio. Sie erklärt die Typen ihrer Besucher, wir lernen etwas mehr Besucher kennen als sonst. Einer hat einen besonders ungewöhnlichen Fetisch, er sieht gerne Zungen. Die Domina sagt, wie sie zu ihrem Job kam, dass sie ihn gerne macht. Sie kümmert sich aber auch gern um ihre Katzen, ihren Garten, sie macht gern Musik. Wie ein ganz normaler Mensch. Anna Rakhmanko stellt die üblichen Fragen, Mikkel Sommer zeichnet eher handelsübliche Bilder.
Das Ergebnis ist ausführlicher als der TV-Zehnminüter, gewiss, auch mit einem Extra-Schlenker zum heiklen Thema „Prostitution – ja/nein“. Aber das Aller-allermeiste hätte man auch mit einer Kamera machen können. Journalismus as usual. Nicht schlimm, nicht schlecht, aber eben auch eine verpasste Chance.
Die „Katzenjammer Kids“ in Prachtband-Qualität: Alexander Braun feiert den Strip-Pionier Rudolph Dirks mit seiner unvergleichlich einladenden Form des Comic-Infotainment
Dieses Buch ist gut. Richtig gut. So gut, dass man kaum entscheiden kann, wo man mit dem Lob anfangen soll. Vielleicht mit dem Namen: Es heißt „Katzenjammer“ und ist von Alexander Braun, den ich hier schon mal erwähnt habe. Und allmählich muss man wohl davon ausgehen, dass der Band nicht deshalb so gut ist, weil Braun wieder mal ein gutes Buch gelungen ist. Sondern dass das Buch deshalb gut ist, weil es von Braun ist.
Die Gefahr: Detailhuberei und Sammelwut
„Katzenjammer“ ist ein Buch über Comic-Geschichte, vor allem natürlich über den legendären Strip „Katzenjammer Kids“ von Rudolph Dirks, eine der großen und ersten Serien der Comic-Geschichte. Was den Reiz, aber auch die Gefahr eines solchen Buches ausmacht: Je nach Nerdgrad kann die historische Bedeutung des 1897 erstmals erschienenen Strips zu unangenehmen Nebenwirkungen führen. Sammelwut, blödsinnige Detailhuberei, Haarspaltereien, Kaiserbartdebatten, gigantoschnarch. Aber: Nicht so in einem Braunbuch.
Braun kombiniert mehrere seltene Talente: ein journalistischer Blick für erzählenswerte Elemente – und die Fähigkeit sie zu schildern. Analytisches Denken. Akribisches Forschen und Wühlen. Ganz abgesehen vom Organisieren des immensen Bildmaterials. Was dazu führt, dass er den Comic erstmal Comic sein lässt, und das Potential des Kopfs dahinter ausschöpft.
Ein Auge für Fakten, eins für süffige Details
Dirks ist ein deutsches Auswandererkind, Papa Dirks wagt als erstes den Schritt in die USA und holt später seine Familie nach. Braun beleuchtet die Lage in Deutschland, die gigantische Aussiedler-Industrie, ihre Schiffe, die Ankunft, die Unterbringung. „Titanic“-reif bebildert, und mit süffigen Details wie dem reaktionären Arbeiterparadies der Pullman-Siedlung oder der Anhebung der gesamten Stadt Chicago um zwei Meter.
Genau das macht ein Braunbuch aus: Der immens offene Blick, gepaart mit einem sachlich-flüssigen Schreibstil, bei dem immer wieder auch Brauns eigenes Staunen angenehm spürbar bleibt. Mit eben diesem offenen Blick sieht Braun in vielen Details günstige Erzähl-Gelegenheiten. Dass Dirks mit Anfang 20 einer der Profiteure des New Yorker Zeitungskriegs zwischen William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer war, dass er mit seinem Comic immens reich wurde, das ist bekannt. Aber Braun stellt die wichtigen Fragen: Warum war der Jungspund schon so früh erfolgreich? Weil er ein Genie war?
Das Schlachtfeld des Entertainment
Die Antworten liefern für ihn die nächsten Perlen, die er munter plaudernd aneinanderreiht. Braun erweckt eine erwachende Epoche der Bilder zum Leben: Ein frisch besiedelter Kontinent muss versorgt werden, der Versandhandel braucht daher Bilder, Bilder, Bilder. Wer naturalistisch zeichnen kann, kann Geld verdienen, selbst wenn er erst 16 ist. Gleichzeitig macht Pulitzer Boulevardzeitungen zum Erfolg, und Bilder sind eines der Erfolgsrezepte.
Vor allem am Sonntag, weil die Arbeiter mehr Freizeit haben und unterhalten werden möchten. Und weil auch Hearst in den Markt drängt, werden die Comicseiten der Sonntagszeitungen das bunteste, spannendste, lebhafteste Schlachtfeld des Entertainment, das man sich denken kann. All das liest sich so farbenfroh wie es aussieht, und deshalb kann Braun hier auch noch die wissenschaftliche Analyse und das Nerdfutter verführerisch verpackt verabreichen.
Analyse mit Augenzucker
Er verfolgt, wer die Sprechblase zuerst verwendet hat und seziert dann messerscharf, das es darauf gar nicht ankommt: Die große Pionierleistung war die Erfindung der wiederkehrenden Figur, der Serie. Dass es Figuren gab, die nicht nur was erlebten und zugleich ein Versprechen abgaben: Dass man sie nächstes Wochenende wieder treffen würde. Dass man auf sie warten konnte. Ohne Serienfigur kein Donald Duck, kein Laurel & Hardy, kein Harry Potter, kein Game of Thrones. Sowas saugt man aus einem Braunbuch, aus einer Menge einfallsreich bebilderter und layouteter Seiten, eine hübscher als die andere. Erst Augenzucker, dann Analyse.
Wer Schwächen finden will, muss lange suchen: Braun beginnt diesmal manche Kapitel mit szenischen Einstiegen, weshalb der flotte, faktensichere Text öfter mal kurz, aber unvermittelt gegen eine eher fragwürdige Form der Vermutungskolportage eingetauscht wird. Kommt nicht zu oft vor, muss man nicht haben, und hat man in bisherigen Braunbüchern auch nicht, die ich samt und sonders empfehlen kann.
Empfehlen will.
Empfehlen muss!
Alexander Braun, Will Eisner, avant-verlag, (vergriffen).
Mit eindrücklichen Bildern taucht Nina Bunjevac in die Welt sexueller Gewalt ein: „Bezimena“ ist ein Horrortrip aus der Perspektive des Täters – großartig und schwer erträglich.
Das Erste, was man beim Aufschlagen von „Bezimena“ denkt, ist: Wie macht die das? Rein technisch, wie geht das, also: ohne Maschinen? Denn Nina Bunjevac arbeitet, das hab ich mir mehrfach versichern lassen, tatsächlich mit der Hand. Aber wenn man diese feinst und unglaublich exakt schraffierten, ganzseitigen Bilder ansieht, wie sie auf den schwarz-weißen Panels riesige Flächen abtönt, indem sie immer noch eine Lage Linien versetzt darüberlegt und noch eine und noch eine, bis sie jede Nuance zwischen weiß und dunkelschwarz ausgelotet hat, denkt man unwillkürlich an endlose Winterabende am Zeichentisch. Aber nicht die Abende eines Winters, sondern die von schätzungsweise acht.
Missbrauchsopfer wählt Täterperspektive
Ohne gute Geschichte wären die natürlich alle für die Katz. Doch Bunjevac hat eine gute Geschichte, eine gewagte sogar dazu. Es geht um sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung, und wie schon bei den Zeichnungen mag die 46-jährige Wahl-Kanadierin auch hier nicht den Standardweg einschlagen. Naheliegend wäre es ja, die Opfer- oder Richterhaltung einzunehmen und überall mit Großbuchstaben SCHLIMM dazuzuschreiben. Aber Bunjevac weiß, dass das schlimm ist, sie ist selbst Missbrauchsopfer, und trotzdem wählt sie die Täterperspektive.
Über eine märchenhafte Rahmenerzählung kommt sie zum Jungen Benny, der in eine kleinen Stadt lebt, wohl Anfang des letzten Jahrhunderts. Benny guckt von klein auf den Mädchen hinterher. Dabei spielt er an sich herum und wird dafür natürlich regelmäßig gemaßregelt. Die Konsequenz ist klar: Benny zieht sich zurück, er verrät niemandem mehr, was in seinem Kopf vorgeht. Aber in seinem Kopf ändert sich dadurch selbstverständlich nichts. Er guckt weiter Mädchen und Frauen hinterher, aber eben so, dass er sich dabei keine Schwierigkeiten einhandelt. Und weil kein Mensch sich gerne als perverser Sonderling fühlt, reduziert er die Kontakte zu anderen Menschen und arbeitet als Tierpfleger, denn Tiere reden nicht und beschuldigen einen noch seltener.
Zu traumhaft um wahr zu sein
Die Geschichte geht, klar, nicht gut aus: Plötzlich trifft Benny traumhafte Frauen, die lauter Sachen machen, die er mag, die ihn geradezu dazu auffordern, und während man selbst sofort denkt, dass da irgendwas nicht stimmen kann, denkt Benny sich natürlich nichts dabei. Und was in seinem Kopf traumhafter, einvernehmlicher Leder-Sex ist, ist in der Realität der Geschichte, man ahnt es früh: Mord. Erstaunlich daran ist, wie zurückhaltend (die selbst betroffene) Bunjevac dabei vorgeht.
Klar ist, dass Benny ein Getriebener ist. Er hat sich seine Vorliebe nicht ausgesucht. Klar ist auch, dass Ausgrenzung keine Lösung bietet: Benny radikalisiert sich sogar eher noch in der Isolation. Auch nachvollziehbar: Bennys Erleichterung, als sich in seiner Scheinwelt der Konflikt zwischen seinen Begierden und der Realität plötzlich in Luft auflöst. Man bekommt eine Ahnung davon, wie erlösend das Internet für zahllose Kindersex-Fans gewesen sein muss: Endlich Gleichgesinnte treffen, endlich nichts mehr verstecken müssen und sogar noch Anerkennung für die eigenen Vorlieben bekommen.
Der Unterschied zu Lügde
Erfreulich ist, wie dezent Bunjevac Stellung bezieht. Der Text ist knapp, trocken, weder anklagend noch rechtfertigend, sie blickt so nüchtern in Bennys Kopf, dass man fast übersieht, was doch offensichtlich ist: Ihre Stellungnahme ist das Düstere in jedem Bild. Man ist nur etwas abgelenkt, weil dieses Düstere eben aus Bunjevacs faszinierender Schraffurwelt erwächst. Da gibt’s eine ganzseitige Hand aus nichts als feinen Linien, eine Hausbedienstete im Laternenschein in einem dunklen Kellergewölbe, auch ganzseitig, und jeder Stein des Bodens, des Mauerwerks schimmert im spärlichen Licht, es ist praktisch unmöglich, hier rasch weiterzublättern.
Einfache Lösungen bietet Bunjevac nicht. Was sie will, erschließt sich auch eher aus dem, was sie nicht tut: Benny ist – im Unterschied etwa zur Campingplatz-Bagage aus Lügde – nicht (mehr) in der Lage, Realität und Scheinwelt zu trennen. Er ist krank, und durch diesen Kunstgriff kann Bunjevac das Problem seiner persönlichen Verantwortung ignorieren. Ihr geht es um das Ausmaß und die Unwiderstehlichkeit der Obsession. Sie heißt nichts davon gut, sie verharmlost auch nicht: Aber sie nimmt zur Kenntnis, dass es hier um nichts geht, was man sich mal so eben abgewöhnen könnte.
Wegschauen ist keine Lösung
Das klingt nicht nach viel, ist aber schon eine ganze Menge. Unlängst im Cuvilliestheater, München. Das Stück hieß „Die Netzwelt“ und zeigt einen Unternehmer, der Kindersex-Süchtigen eine Alternative bietet: digitale, also erfundene Kindersex-Partner. Allein schon das Thematisieren genügte an dem Abend, dass Leute aufstanden und gingen. Bunjevac weiß: Das ist keine Lösung.
Dieser Text erschien erstmals am 28. Mai 2020 bei SPIEGEL Online.