Soviel Service gab's hier noch nie: Ein Thema, aber in zwei Geschmacksrichtungen. Einmal typisch deutsch, einmal typisch nordamerikanisch

Gibt es einen deutschen Comic-Geschmack? Ich glaube ja, und oft mag ich ihn nicht. Aber: Grad ist mir ein ein sehr solider, sehr deutscher Comic in die Hände gefallen. Parallel zu einem sehr guten, sehr amerikanischen Comic. Beide sind, grob gesagt, „Frauencomics“. Weshalb man diesmal a) schön die Unterschiede zeigen kann, und b) Sie sich hinterher Ihrem Geschmack entsprechend bedienen können. Willkommen in der Service-Oase Comicverführer.
Comic-Cousinen vs. Katja Klengel
Der deutsche Kandidat ist Katja Klengels „Als ich so alt war“, die Geschichte der Freundschaft zwischen einer jungen und einer alten Frau. Aus Amerika kommt der Titel „Skim“ der Comic-Cousinen Jill und Mariko Tamaki, die Story des erwachsen werdenden Mädchens Kimberly „Skim“ Cameron. In beiden Fällen geht’s also um Alter, älter werden, richtig leben, Glück/Zufriedenheit finden, sowas in der Art. Los geht’s!

„Als ich so alt war“ erschien erstmals 2012 in der FAZ als tägliche Fortsetzung, was man dem Erzählfluss der 2022 zusammengefassten Graphic Novel praktisch nicht anmerkt. Rosalie, die alte Frau, hat vor zwölf Jahren ihren Mann beerdigt und schwankt zwischen Einsamkeit, Verbitterung und Endzeitstimmung. Lilli, ihre Enkelin, steckt in einer mäßigen Beziehung und wird dann bei Oma einziehen, weshalb beide rasch mehr über die Sichtweisen der jeweils anderen erfahren werden.
Tagesstrip mit Graphic-Novel-Reife
„Skim“ (2008) hingegen war vom Beginn an als Graphic Novel konzipiert. Skim ist eine 16-Jährige, deren Tagebuchnotizen im Voice-over die Comic-Story begleiten. Wir erleben ihren Schulalltag, wie sie sich in ihre Lehrerin verliebt, was in einen echten Kuss und beinahe eine Affäre mündet. Man darf also beide Geschichten als „Problemzeug“ einsortieren, oder?

Interessant ist, wie unterschiedlich beide das Ganze angehen. Klengel (die ja zwei Protagonistinnen hat) startet mit der Abschieds-Andacht, nach der Rosalie heimgeht und nachdenklich mit dem Foto des Toten spricht. Und mit Lilli, die zu ihrem Freund heimkommt, der sich blöd benimmt. Ruckzuck ist Klengel mitten in den Konflikten. Und die Tamakis?
Mitten hinein in die Konflikte
Skim hat derzeit gerade einen Gipsarm, erzählt über ihre streitenden Eltern und über die blöde Katie Matthews, die sich (großes Drama!) von ihrem Freund getrennt hat. Wir sehen, dass Skim zwar im Alltag keine große Klappe hat, aber dafür schriftlich sehr sarkastisch kommentiert. Konflikte durch Skims Augen zu sehen, ist ausgesprochen unterhaltsam. Beim Problem sind wir – noch gar nicht.

Klengel entwickelt die Konflikte weiter. Rosalie vergräbt sich, obwohl recht rasch ein charmanter Nachbar auftaucht, der sich nicht entmutigen lässt. Lillis Freund benimmt sich immer blöder, weshalb der bald auftauchende Lion umso normaler wirkt. Skims Welt schlingert währenddessen ins Chaos: Katies Freund hat sich umgebracht. Und plötzlich ist die ganze Schule im Panikmodus.
Verliebt in die Lehrerin
Was Skim recht kopfschüttelnd schildert: Katies Freundinnen starten einen „Ja-zum-Leben“-Club, die Lehrer und Eltern versuchen hektisch herauszufinden, ob womöglich noch mehr Schüler selbstmordgefährdet sind. Skim flieht vor dem Chaos ins nahe Wäldchen, wo die alternative Lehrerin Frau Archer sie beim Rauchen findet und eine Zigarette von ihr schnorrt – es kommt zum aufregend-verstörenden Küsschen.

Handwerklich sind beide Geschichten sehr gut erzählt. Klar ist Jillian Tamaki vielseitiger, versierter, mutiger, Szenaristin Mariko war auch schon Mitte 30, aber Klengels (damals: 24) Bildaufteilung ist ebenfalls weit überdurchschnittlich. Rhythmus, Tempo, Dynamik, da kann man auch bei ihr nicht meckern. Und weder Lillis noch Rosalies Unglücke lassen einen kalt. Aber keine von beiden schleicht sich so ins Herz wie Skim. Woran liegt das?
Drumherum oder Auf-den-Punkt?
Ein bisschen kann man den Grund wohl im Alter sehen: Skim ist jünger als Lilli, unerfahrener, sie kann das, was sie erlebt, mit nichts vergleichen. Was aber auch dazu führt, dass der Leser es fast automatisch für sie einordnet und damit extrem involviert ist. Bei Lilli und Rosalie ist das anders. Die wissen ziemlich genau, was los ist – und sie sprechen es auch oft aus, selbst wenn es eigentlich nicht nötig ist. „Willst du immer nur Sex, wenn ich dir meine Probleme erzähle“, fragt Lilli ihren Doof-Freund, nachdem wir genau das selbst beobachten durften. Rosalie weiß und sagt, dass ihr die Wohnung zu groß wird oder dass sie seit Jahren ihren Mann nicht loslassen kann. Und wenn beide miteinander reden, erörtern sie ernst, innig und explizit ihre Schwierigkeiten.

Verglichen damit wirkt die „Skim“-Lösung eindeutig eleganter. Aber wenn ich den deutschen TV- und Kino-Gepflogenheiten folge: Für ihren anspruchsvollen Mittwochabend würde die ARD wohl Katja Klengel rauspicken. Kann ja sein, dass „Skim“ mehr „Sopranos“-like ist, aber welchen Erfolg hatten die denn in Deutschland? Und was mir zu explizit klingt, ist vielleicht für viele „Tatort“-Liebhaber erfreulich präzise und auf den Punkt gebracht.
Der Vorteil der Un-Präzision
Denn bei Katja Klengel weiß man jederzeit genau, was in den Protagonistinnen vorgeht, weil sie’s einem sagen. Von Skim hingegen erfahren wir, dass ihre Lehrerin meinte, es sei besser, wenn Skim nicht mehr vorbeikäme. Und Skim sagt, dass sie das okay findet. Aber wir sehen, dass es sich für Skim sehr un-okay anfühlt. Skim will reif sein und erwachsen und nicht blöd, und all das erfahren wir, indem uns Skim nicht das Zutreffende mitteilt, sondern das Gegenteil. Der Vorteil der Un-Präzision. So, und mit welcher Graphic Novel fahren Sie jetzt besser? „Tatort“-Freunde mit Frau Klengel? „Soprano“-Fans mit „Skim“? Garantieren kann ich’s nicht. Aber liege ich daneben, machen Sie mit beiden Titeln dennoch nichts falsch.
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In Zeiten von Krisen und Rezension ist Schenken erste Bürgerpflicht: Sieben kleine Geschenktipps von kostbar bis kostenlos

Weihnachten, die letzte Insel der Seligen. Kinder duften nach Bratäpfeln, Zuckerwatte ersetzt flächendeckend den Schnee und in der allgemeinen Besinnlichkeit entdecken vereinzelte Amerikaner, was sie da eigentlich gewählt haben. Alles könnte so schön und friedlich sein, aber vor das Fest haben die Götter die Geschenke gesetzt. Woher nehmen und nicht stehlen? Aber gottseidank lesen Sie ja das richtige Blog zur richtigen Zeit.
Für Leute mit Tisch

Tja, damit kann man natürlich praktisch nichts falsch machen: Man geht zum Taschen-Verlag und erwirbt einen gefühlten Zentner Premium-Comics, beispielsweise den zweiten Sammelband der Marvel-Avengers-Abenteuer. Schön verschubert und verpackt in Originalgröße. Vorsicht: Originalgröße bedeutet hier die Größe der Originalzeichnungen, also die doppelte Heftgröße. Das ist nicht nur deshalb wichtig, weil man die Hefte in diesem Umfang früher niemals unter der Bettdecke hätte lesen können. Sondern weil Sie heute berücksichtigen sollten, dass sowas auch fürs Sofa nicht so handlich ist: Beschenkte sollten für ermüdungsfreies Lesen wenigstens einen soliden Tisch in der Wohnung haben, eine hauseigene Bibliothek nebst Ohrenbackensessel wäre optimal. Bei Gefallen sind dann auch weitere Geschenk-Ideen für die nächsten Jahrzehnte gesichert, Sie müssen nur daran denken, die unteren Stockwerke ggf. baulich abzusichern. Aber wenn das alles bedacht ist: Mehr Marvel geht einfach nicht.
Für Lebende
Ein weiterer Teil der inoffiziellen Serie: Ist es überhaupt ein Comic? Tom Haugomat liefert mit „Ein ganzes Leben“ eine chronologische Erzählung in Jahresschritten. Rodney wird geboren und altert, und für jedes Jahr gibt es ein Bild Rodneys mit Ortsangabe sowie gegenüber etwas, das Rodney sieht. Was nicht nur eher wortlos klingt, sondern es auch ist. Aber es guckt sich sehr gut an: Fast schon meditativ blättert man durch die elegant designten Jahre, stets nur aus türkis/hellrot/ockergelb/weiß/schwarz zusammengesetzt. Das Konzept erinnert leicht an „Hundert“ von Valerio Vidali/Heike Faller: doch die schubsen noch mit kurzen Sätzen die Nachdenklichkeit an, während Haugomat die gesamte Kopfarbeit den Lesern freistellt. Funfact 1: beide Bände kommen aus der Schweiz. Funfact 2: „Ein ganzes Leben“ ist offenbar noch von einer echten Übersetzerin übersetzt, obwohl da wirklich nicht viel zu übersetzen war. Zu wünschen wäre es, aber vielleicht ist Philippa Smith auch irgendein Bot…
Für Tretende

Man möchte dringend, dass Max Julian Ottos „Es geht auch ohne Ehrgeiz“ funktioniert: Da ist so vieles sympathisch. Die Geschichte um den mittelalten Sohn eines verstorbenen Radprofis, der selbst das Radeln hasst, aber ein Café für Radfahrer eröffnet und in der Corona-Krise ins Zweifeln kommt. Die guten Beobachtungen, die professionellen, aber nicht zu anbiedernden Zeichnungen. Ottos Mut, den 200-Seiten-Comic einfach im Selbstverlag zu publizieren, in tadelloser Buchhandelsqualität, das fehlt sich nichts. Dazu fahr ich selber gern Fahrrad. Aber weil viele Einzelmomente noch keine gute Story ergeben, kommt die Geschichte selbst über nett leider nicht hinaus. Wobei: Der Radlersohn, der wieder zum Rad findet, das ist sehr, sehr gutes Wohlfühlmaterial, geeignet für Sat 1, ARD, ZDF, Familienfernsehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für politisch Denkende

Die Zukunft sieht düster aus. Die USA fallen als Demokratie weg, gehen außenpolitisch zur Schutzgelderpressung über, die anderen Staaten finden Einigkeit zu anstrengend und kochen nach und nach ebenfalls nationale Süppchen, die logischerweise immer dünner werden. Und jeder, der festzustellen wagt, dass es früher irgendwie besser war, wird als innenpolitischer Feind verfolgt. Nein, das gibt es nicht als Comic, das ist die reale Zukunft. Es gibt aber einen Comic, der im Vergleich dazu tröstlich wirkt: „Die Straße“ von Manu Larcenet nach dem Roman von Cormac McCarthy. Das Tröstliche: Diese Zukunft ist derart entsetzlich, dass sie Trump, Putin und Sahra Weidel zusammen nicht hinkriegen. Jedenfalls nicht in den nächsten zehn Jahren. Oder fünf.
Für Versöhnungsbedürftige

Wo treffen sich Gutmensch und Impfgegner? Genau, im Reformhaus. Und für dessen Monatszeitung „Reformhauskurier“ hat der große, leider schon tote Cartoonist Bernd Pfarr von 1988 bis 2004 den Comic-Strip „Alex der Rabe“ gezeichnet - der jetzt erstmals gesammelt erscheint. Alex ist eine Art Parallel-Donald Duck samt einer Daisy (Nicki), einem Gustav Gans (Dietrich), Düsentrieb (Professor Alonso). Band 1 ist jetzt erschienen und zeigt eine interessante Mischform: Einerseits sind die Episoden alle kindgerecht, mit eher schlichter One-Pager-Pointe wie im Micky-Maus-Heft. Aber bei mindestens fünf Episoden habe ich extrem gekichert, nicht zuletzt bei der mit dem Titel-Gag. Zusätzlich geschenkgerecht ist die Aufmachung des Buchs und natürlich die munter angeschrägte Pfarr-Optik. Und politisch wird’s – überhaupt nicht. Was wäre an Weihnachten willkommener?
Für lau

Okay, das geht nicht für jeden, aber für viele in NRW und je nach Reiselaune auch darüber hinaus. Und es kostet: nix, wenn Sie ein Deutschlandticket haben, vielleicht sogar zweimal nix. Das Geschenk geht so: Am zweiten Weihnachtsfeiertag nehme man die Beschenkten an der Hand, steige in einen Zug und fahre nach Dortmund. Am Hauptbahnhof raus, ca. 73,4 Meter über den Königswall schlurfen und hinein in den Schauraum comic + cartoon mit der neuen Ausstellung „Black Comics“: Alles rundum Bestseller wie „Black Panther“ oder Eigenwilliges wie „Aya aus Youpogon“. Mit etwas Glück hat Ausstellungsmacher Alexander Braun für Sie sogar den lesenswerten Katalog noch passend zum Mitnehmen fertiggedruckt, zum günstigeren Ausstellungspreis. Vielleicht noch zwei Kaffeebecher einpacken, für den Glühwein daheim, einen Happen essen, dazu ein bis zwei Pilse einwirken lassen und sich der Bahn für die Heimfahrt anvertrauen. Kann man eigentlich alle Jahre wieder machen...
Ach so, ich hab ja sieben Tipps versprochen: Im Notfall schenken Sie einfach einer Comicfanin/einem Comicfan Ihrer Wahl ein Abo dieses Blogs... Kostet ebenfalls nix, ist schnell gemacht und auch noch Sekunden vor der Bescherung verfügbar.
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Karriere im Heim: Mit geschickt dosiertem Humor illustriert Paco Rocas Demenz-Schocker „Kopf in den Wolken“ die Erträglichkeit des Unerträglichen

Sorry, das hier ist nicht neu, aber ich kannte es bislang nicht: Und zum Comicverführen braucht man nicht immer den neuesten heißen Scheiß, sondern den besten. Dazu gehört dieser Comic fraglos, er ist zehn Jahre alt und entsetzlich gut. Und zwar im Wortsinn, er ist entsetzlich und er ist gut. Die Rede ist von Paco Rocas „Kopf in den Wolken“.
Blick in die Hölle
Das Cover täuscht noch ein wenig: Man sieht drei ältere Herrschaften im versonnenen Gespräch und fühlt sich ungut an die Hallervordensche Altersverbrämung erinnert. Aber schon der Einstieg fegt derlei Bedenken hinweg: Ein junges Paar sitzt in einer Bank, wo der besonnene Sachbearbeiter Emilio den beiden bedauernd einen Kreditwunsch abschlägt. Der junge Mann schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, aber nicht aus finanzieller Verzweiflung: „Du bist nicht bei der Bank!“, brüllt er den konsternierten Emilio an, „du arbeitest doch schon seit Jahren nicht mehr! Ich will nur, dass du endlich dein Abendessen isst!“ Nur neun Panels braucht Paco Roca, bis wir einen überforderten alten Mann im Bett sitzen sehen, vor seinem komplett überforderten Sohn: fortschreitende Demenz.

Die „Honig-im Kopf“-Welt löst das Problem bekanntlich, in dem die Frau zuhause bleibt, ein bisschen Care-Arbeit leistet, woraufhin der Patient so versonnen wie zügig in die Grube fährt und alle alles mit einem guten Gefühl abhaken und weitermachen. Paco Roca aber geht dahin, wo „Honig im Kopf“ sich aus der Verantwortung stiehlt: Er zeigt den Normalfall: der Patient stirbt nicht. Und nun? Emilio braucht einen Pflegeplatz, sein Sohn findet ihn. Einen guten Platz, wohlgemerkt, das Heim ist völlig in Ordnung. Das Leben ist es nicht.
Roca geht da hin, wo's wehtut
Vor Emilio liegt eine Heimkarriere: Er kommt als einer der Fitteren, und er sieht an den anderen Bewohnern seine Zukunft – obwohl er sie noch nicht als seine Zukunft erkennt. Er sieht Leute, die immer dasselbe erzählen, die Zucker- und Ketchuptütchen horten. Eine Frau, die mit ihrem dementen Mann ins Heim gezogen ist: Sie liebt ihn, aber er, so der zynische Mitbewohner Miguel, „könnte genauso gut neben einem Salatkopf sitzen.“ Die Frau, die immer ein Telefon sucht, um ihre Kinder anzurufen, die alte Sportskanone, die ewig dieselben Geschichten erzählt, die Frau, die immer im Zug nach Istanbul sitzt. Wie bei ihr wechselt Roca oft die Perspektive, zeigt erst die elegante Vorstellung, dann die bittere Realität.

Vorbildlich klappert Roca dabei nicht nur die erzählerisch attraktiven Ticks ab. Über Miguel analysiert er, dass für alle der Tag aus Essen und Schlafen besteht, dass der Besuch der Angehörigen selten, aber schön ist. Dass man an Frisur und Kleidung erkennt, wer mental der einstigen Normalität noch am nächsten steht. Aber da hat Emilio schon begonnen, gelegentlich den Pullover übers Jackett zu ziehen. Auch er versitzt bereits ganze Tage im Aufenthaltsraum.
Erkenntnis durch Zufall
Dass diese Heimkarriere vom rüstigen Neueinsteiger zum alteingesessenen Dämmerer auch seine sein wird, begreift Emilio zufällig, als er erfährt, dass er dieselben Medikamente bekommt wie der Ehemann des Salatkopfs. Vielleicht hat es ihm auch schon jemand vorher gesagt, und er hat es vergessen, aber jetzt will Emilio den ersten Stock sehen: Dort landen die Dementen, und wiederum nicht aus Bosheit oder als Strafe, sondern weil die Bedürfnisse der Bewohner unterschiedlich sind.
Zu viel gespoilert? Garantiert nicht, denn Roca schildert das alltägliche Entsetzen des Alters in unglaublich vielen exzellent beobachteten, scheinbar harmlosen, dafür umso furchtbareren Details. Denn natürlich hofft man als Leser, dass es diesmal anders sein wird, bei Emilio, dem eleganten Herrn aus der Bank. Aber es wird nicht, kann nicht anders sein. Neue Medikamente werden kommen, sie werden diese Lebensphase für viele Menschen nach hinten verschieben, aber sie bleibt eine Realität.
Schuld ist niemand, nur das lange Leben
In seiner Schonungslosigkeit ist Paco Roca ganz nahe an Roz Chasts „Können wir über was anderes reden“, sehr nahe an Michael Hanekes „L’Amour“, Florian Zellers „The Father“. Weniger deutlich wird sein Anliegen. Sterbehilfe? Unwahrscheinlich: keine Figur findet ihr Dasein so unerträglich, dass sie den Tod sucht. Auch, weil die Hölle immer wieder erträgliche Momente hat, die man allerdings umso weniger erträglich findet, je näher man sich dem früheren, „echten“ Leben fühlt.
Einzigartig ist der Fokus der Heimrealität. Geht es Roca um eine Verbesserung? Kaum, Emilio ginge es auch mit mehr Pflegern nicht besser. Niemand kann ihn heilen, und das Heim ermöglicht, dass er und sein Sohn an Weihnachten zusammen feiern statt sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Roca klagt niemanden an, allenfalls dieses lange Leben.
Humor sorgt für Atempausen
Bewundernswert ist, wie Roca seine Leser vom Aufhören abhält: Zum einen nutzt er den Reiz des Entsetzlichen, wie ein geschickter Horror-Autor. Dazwischen erzeugt er aber Atempausen mit schwer nachahmlichem Humor: respektvoll, aber trotzdem bitterböse und frech, so dass man im erstickenden Grauen immer wieder Luft bekommt. Was letztlich auch die Erträglichkeit des Heimlebens gut imitiert.
Ist „Kopf in den Wolken“ ein Problemcomic? Ein Debattenbeitrag? Bringt er den Leser irgendwie voran? All das eher nicht, aber es ist eine verändernde Erfahrung: Danach sieht niemand mehr das Altern mit den gleichen Augen. Und man sieht Filme wie „Honig im Kopf“ als das, was sie sind: hochdosierte Beruhigungsmittel.