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Comicverfuehrer

Müssen trübe Themen auch unattraktiv sein? Drei Comics zeigen, dass es anders geht – trotz Waisenheim, Missbrauch und Teenie-Schwangerschaft

Illustration: Taiyo Matsumoto - Carlsen
Illustration: Taiyo Matsumoto - Carlsen

Ein alter Woody-Allen-Witz geht so: Zwei Seniorinnen unterhalten sich im Hotel. Sagt die eine: „Das Essen hier ist einfach katastrophal.“ Und die andere: „Stimmt, und diese winzigen Portionen!“ Ähnlich geht’s mir mit vielen, ich nenne sie mal: Sozialcomics. Erst das große Elend, und dann sieht’s auch noch freudlos aus. Interessanterweise sind mir gerade drei Comics untergekommen, die’s anders machen. Freuen Sie sich nicht zu früh: Elend bleibt Elend. Aber… na, warten Sie‘s ab.


Die nervt, die junge Alte

Illustration: Wanda Dufner - Edition Moderne
Illustration: Wanda Dufner - Edition Moderne

Nummer Eins ist der Neuzugang „Bauchlandung“. Das Debut der Schweizerin Wanda Dufner behandelt das Thema „Teenagerschwangerschaft“, ist autobiografisch und auf 400 Seiten so unbeschwert wie ein Senkblei. Dufner lässt nichts aus: Überforderung, ahnungsloser Sex mit einem sensationell arschlochmäßigen Freund, permanentes Gejammer und Beklagen, Plot und Protagonistin gehen einem rekordschnell auf den Keks. Selbstmitleid und Selbstvorwürfe, Entscheidungsunfähigkeit und Heulerei über Bevormundung, und all das noch im krakeligen Liv-Strömquist-Stil. Aber!

Dufner kombiniert das mit einer kunterbunten Farborgie. Ein hemmungsloser Griff in den Malkasten, kein Farbtöpfchen bleibt ungenutzt, das ist wie zwei doppelte Espressi direkt aus der Tasse hinein ins Auge. Man bleibt gewissermaßen grellwach, man blättert unentwegt weiter, obwohl die junge Alte ganz schön nervt. Die launigen, quicklebendigen Farben haben mich durch den Band getragen. Gottseidank, weil Dufner nach und nach einen angenehm beißenden Humor entwickelt, ohne ihr Farbdoping wären mir also auch einige prima Lacher entgangen.

Was dennoch nicht heißt, dass „Bauchlandung“ hilfreich wäre: zum Ratgeber taugt der Band kaum. Aber selten war so viel Kummer so belebend.

 

 

Grabbelnder Pfarrer

Illustration: Alfred/Olivier Ka - Carlsen
Illustration: Alfred/Olivier Ka - Carlsen

Trübsal Nummer zwei fand ich auf den Spuren des Franzosen Alfred (eigentlich Lionel Papagalli). In „Warum ich Pater Pierre getötet habe“ illustriert er eine autobiographische Erzählung von Olivier Ka. Wie der Titel andeutet, geht’s um Kindesmissbrauch. Nicht die schlimmste Variante, aber trotzdem. Eine einmalige Episode im Jugendcamp, die Ka bleibend beschädigt. Ka schildert sie angemessen naiv, Alfred setzt das Erlebte kindlich, bedrückend in Szene und kompakt. Ka/Alfred bringen den heiklen Stoff in nur 100 Seiten auf den Punkt. Kürze, Würze, man muss die Leser nicht totlabern. Und doch bleiben Fragen.

Nicht, ob das Ganze der Schwere des Vorgangs angemessen ist: Ka konnte den Grabbelversuch des kirchlichen Familienfreunds zwar ein für alle Mal abwürgen, traumatisiert ist er fraglos dennoch. Was aber verwirrt, ist, dass weder Ka noch Alfred auch nur ein einziges Mal der Gedanke an andere Kinder kommt. Das Feriencamp fand schließlich jahre-, jahrzehntelang statt. Bedeutet: Hunderte möglicherweise weniger starke Opfer. Wie können da zwei mittlerweile gestandene Erwachsene die Sache für erledigt halten, nachdem Ka mal den Pfarrer wegen der eigenen Episode zur Rede gestellt hat?

 

Olivier Ka (Text), Alfred (Zeichnungen), Martin Budde (Üs.), Warum ich Pater Pierre getötet habe, Carlsen, nur gebraucht erhältlich, z.B. derzeit bei Medimops


Zähe Kleinfighter

Illustration: Taiyo Matsumoto - Reprodukt
Illustration: Taiyo Matsumoto - Reprodukt

Nummer drei ist einer meiner Klassiker, die Manga-Reihe „Sunny“ von Taiyo Matsumoto, in der ich mich gerade durch Band 3-4 gefressen habe. Wieder in Japan, im Waisenhaus der Sternenkinder,  deren Leben Matsumoto schlaglichthaft in Episoden schildert. Die Reihe hat einen ganz eigenen Zauber, der auf zwei Zutaten beruht: Das Heim, anständig, sogar liebevoll, aber nicht zersüßt wie die ARD-Sachsenklinik, sondern robust, professionell, wie ich’s aus meinem Zivildienst kenne – man fällt den Kindern nicht dauernd um den Hals und führt nicht ständig bedeutungsvolle Gespräche.

Zutat zwei sind die Kinder selbst: Um Aufmerksamkeit ringend, ruppig und zugleich enorm verletztlich. Sie leiden darunter, dass ihre Eltern weg sind, wären gerne „normal“, misstrauen der Nicht-Heimwelt und sehnen sich doch nach ihr. Und für die Normalität oder auch nur die Illusion davon belügen und betrügen sie häufig andere und sich selbst (womit sie sich nicht anders verhalten als viele Erwachsene angesichts der unschönen Gegenwart).

Matsumoto schildert all das einfalls- und variantenreich, einfühlsam und zugleich sachlich wie eine gute Reportage, was „Sunny“ immer wieder zum verwirrend bittersüßen Erlebnis macht. Das auch daran erinnert, dass diese Kinder nicht aus Zucker sind, sondern recht toughe Kleinfighter. Und ausgedacht.

 




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Kinder und Social Media, muss man irgendwie nachdenklich-kritisch sehen, ne? Aber muss sich das dann auch so lesen? Bei Luise Mirdita nicht!

Illustration: Luise Mirdita - Schwarzer Turm
Illustration: Luise Mirdita - Schwarzer Turm

Vorbildlich. Man kann es kaum anders nennen, was Luise Mirdita da in „Schattenspiel“ veranstaltet. Weil Mirdita sich ein ernstes Thema vorgenommen hat, und gerade bei denen kann man soooo viel falsch machen. Mirditas Thema: Kinder und Social Media. Was ja per se auch noch irgendwie nach Selbsthilfe-Workshop klingt, nicht wahr? Obendrein hat sich Mirdita in den Kopf gesetzt, das Ganze mit dem Bleistift zu machen (vielleicht ist auch noch etwas Kohle dabei), bunt wird’s also nicht. Oje! Aber: Wunder über Wunder, es klappt. Warum?


Im Chat: Fotos aus der Umkleide

Illustration: Luise Mirdita - Schwarzer Turm
Illustration: Luise Mirdita - Schwarzer Turm

Die Basis ist: die Geschichte. Mirdita wählt die Kinderperspektive. Karlotta ist in der sechsten Klasse und eine der wenigen, die weder ein Smartphone hat noch vermisst. Aber sie kriegt natürlich mit, was läuft. Judy, ihre Freundin von früher, hat jetzt ein Videoblog. Und im Klassenchat postet Max ein Umkleidefoto von Isabelle. Karlotta, die nachts oft von ihrem Super-Alter-Ego Charlotte träumt, knöpft sich Max vor und zerlegt sein Handy. Und in bester Show-don’t-tell-Manier hat Mirdita die Spannungsfelder eröffnet.


Mumm geht online


Denn Judy sieht auf ihrem Videoblog ganz anders aus als früher. Und die Aufmerksamkeit lässt unter den Kindern eine völlig neue Währung entstehen: Wer kennt Judy? Wer trifft Judy? Wer ist mit ihr im Video? Und auch Karlotta profitiert, sogar ohne Handy: dank ihres zivilcouragierten Auftritts wird sie Klassensprecherin – und qualifiziert sich letztlich für ein Treffen mit Judy. Die zwar sagt, dass sie’s nicht an die große Glocke hängen wird, aber dann Fotos und Videos trotzdem online stellt.


Luise kann Regie


Karlotta analysiert das nicht. Aber sie registriert diese neue Welt und bekämpft nachts in ihren Träumen die „Falschen“, die sich verstellen, „nur um dazuzugehören“. Ganz nahe kommt Mirdita hier dem Punkt, an dem’s zu deutlich werden könnte – und geht dann klug nicht noch näher ran. Sie löst den Konflikt auch nicht in Wohlgefallen auf. Ihr ist das Unbehagen wichtiger als wer in welchem Umfang schuld ist. Und dass Karlotta einen eigenen Weg finden muss. Was broschürenhaft klingt, aber eben nicht aussieht: Denn Luise Mirdita kann Regie.

Illustration: Luise Mirdita - Schwarzer Turm
Illustration: Luise Mirdita - Schwarzer Turm

Dialog-Szenen im Klassenzimmer oder am Frühstückstisch hält sie knapp und bebildert sie abwechslungsreich: Totale, Close-up, Detail, Blick von oben, schräg von unten, Schuss, Gegenschuss. Wie sieht man Karlotta – und was sieht wiederum sie? Abwechslungsreiche Panelgröße, das Große klein, das Kleine groß, so hält man Leser wach. Und in Karlottas Träumen dreht Mirdita so richtig auf. Gigantische Alptraumstädte, surreale Konstruktionen, Superheldenflüge, Actionszenen, Fritz-Lang-Finsternis – was war das noch gleich mit Social-Media-Workshop?

 



 

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Die Outtakes (25): Mit einem Blick in Amerikas vergangene Zukunft, ganz normalen Superhelden und Lust-voller Archäologie

Illustration: Derf Backderf - Abrams Comicarts
Illustration: Derf Backderf - Abrams Comicarts

Erwartbares Fiasko


Derf Backderfs Sachcomic „Kent State“ ist richtig beeindruckend. Er kommt auch nur deshalb zu den Outtakes, weil er im Gegensatz zu Backderfs Jugenderinnerung „Mein Freund Dahmer“ fünf Jahre nach seinem US-Erscheinen noch immer nicht auf deutsch erhältlich ist. Womöglich ist das Ereignis zu speziell: Am 4. Mai 1970, zur Hoch-Zeit der Studentenproteste, eröffnet die Nationalgarde, also die offizielle Bundesstaats-Wehr von Ohio, auf dem Campus der Kent State University das Feuer. Vier junge Menschen sterben in dieser Mischung aus politisch-konservativer Schießwut, Terrorangst, Überforderung, und das in einer Situation, die weder vom Anlass noch von den Umständen her auch nur ansatzweise irgendeinen Schusswaffeneinsatz erfordert hätte. Backderf recherchiert sauber, legt seine Quellen offen, die im Unterschied zu manch anderem Sachcomic weniger aus bequem zugänglichen Wikipedia-Einträgen bestehen, sondern aus Dokumenten, Zeugenaussagen, zeitgenössischen Presseberichten etc. Besonders erschreckend ist dabei die Vorhersehbarkeit des Fiaskos, bei dem auch die Geheimdienste munter mitlauschten, mitpfuschten und mitvertuschten. Und zu wissen, dass der momentane US-präsidiale Wiedergänger bereits einmal kein Problem hatte, so unnötig wie rücksichtslos mit militärischen Mitteln zu arbeiten.

 


Gags, gründlich erläutert

 Illustration: Marc-Uwe Kling/Florian Biege - Rowohlt
Illustration: Marc-Uwe Kling/Florian Biege - Rowohlt

Preisfrage: Wer wäre in einer Welt, in der jeder ein Superheld ist und Superkräfte hat, etwas Besonderes? Der, der wie alle ist – oder der einzige, der keine Kräfte hat?

Genau. Aber Känguru-Chronist Marc-Uwe Kling ist in seiner Parodie „Normal und die Zero Heroes“ leider zu begeistert von seinem Running Gag: lustige Superhelden mit lustigen Fähigkeiten zu erfinden. Lustig bedeutet hier beispielsweise: Die KOLLEGIN (Superkraft: verschwindet, sobald es Arbeit gibt). Oder der BEAMTE (Superkraft: unkündbar). Oder MÜLLMANN (beseitigt – was wohl?). Leider ruiniert Kling auch diesen sekündlich alternden Gag, in dem er Namen und Kraft lang und breit erklärt. Liegt’s an der Ur-Angst deutscher Komödien, weder dem eigenen Gag noch dem eigenen Publikum zu trauen? Parodiert Kling hier die hölzernen Erklär-Einblendungen in Mangas und  verholzt damit die eigenen Pointen? Letztlich jammert hier der einzige Normale in einem fort, dass er kein Superheld ist, wird dann aber natürlich doch noch zum Helden und schnarch. Schade: Eine Welt voller Superhelden, die begeistert den Abenteuern des einzig Normalen folgt – das hätte witzig werden können, sogar mit diesen gefällig-harmlosen Zeichnungen.



Altertürme

Illustration: Ulli Lust - Reprodukt
Illustration: Ulli Lust - Reprodukt

Ulli Lust muss Spaß gehabt haben: Sie hat sich durch die Ur- und Frühgeschichte des Menschen gewühlt, für den Sachcomic „Die Frau als Mensch“ eine Menge gelesen, eine Menge untersucht. Es geht ihr um frühe Kunst und Gesellschaften, es geht um die Rollen von Frauen, es geht um Umwelt, ums große Ganze von Anbeginn der Menschheit an, und das ist leider ein bisschen viel. Lust türmt Archäologie und Artefakte auf, Reportagen indigener Gesellschaften, Umweltschutz, Korruption, dazwischen kleine Spielszenen, eine enorme Fundgrube, der vor allem eines fehlt: eine gezielte Fragestellung. Der Band wäre nicht halb so ermüdend, wenn man wüsste, was denn da jeweils gerade belegt werden soll. Geht es um die Rolle der Frau? Geht es um die Aussage und/oder Bedeutung von Artefakten? Geht es um das Zusammenleben von Gesellschaften? Doppelt schwammig wird es, weil Lust zwar viel Interessantes anhäuft, aber auch präzise sagt, dass man allenfalls vermuten kann, wie, wann und warum etwas sehr viel früher mal so oder anders gemacht wurde. Und weil Lust weder provokante noch irgendwelche anderen Thesen aufstellen mag, weiß man jedes Mal nicht, ob diese Vermutung nun etwas untermauert, widerlegt oder einfach Fun-Fact ist. Ergebnis: Man würde gern mal was zu diesem Thema lesen. Aber war das nicht eigentlich das, was Ulli Lust mit dem Comic liefern wollte?


P.S.: Ist natürlich alles Ansichtssache. Die Jury des Deutschen Sachbuchpreises hat Frau Lust sofort den Preis für 2025 umgehängt.

 





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