Die Outtakes (10): Zuviel Rührseligkeit im Meer, zu wenig Logik im Mord und nicht genug Witz in den Muskeln
Die Farben des Schreckens
Erstaunlich, oder? Inzwischen genügt allein die Kombination aus Meerblau und Alarm-Orange, dass jeder sofort das Thema „Flüchtlinge“ vor Augen hat. In Adrian Pourviseh schildert nun ein weiterer Autor mit „Das Schimmern der See“ die unhaltbaren Zustände im Mittelmeer. Was teils exzellent gelingt: Die Praxis professioneller Retter schildert er präziser und eindringlicher als andere Versuche, zudem liefert er ein Update zu den seit 2017 eingetretenen Veränderungen hin zum Idiotischen/Unmenschlichen. Weniger hilfreich in diesem semijournalistischen Erfahrungsbericht ist allerdings Pourvisehs Neigung zur Rührseligkeit. Denn auch hier gilt: Die Leser schniefen umso weniger, je mehr der Autor selber schnieft.
Mimose mit Mord-App
Kaum vorstellbar brutal kommt der Thriller „A Righteous Thirst For Vengeance“ (zu deutsch: Ein aufrichtiger Rachedurst) daher. Der Start ist hervorragend, geradezu „Spiel mir das Lied vom Tod“-Qualität: Wir folgen (wortkarg und ausführlich) dem dicklichen, mittelalten Sonny, der durch den Regen mit dem Bus zu einem einsamen Haus fährt: Dort findet er ein totgefoltertes Paar. Das ist langsam und grandios inszeniert, sehr überraschend. Aber dann beginnt der Unfug: Sonny hinterlässt (nach Stunden im Regen) blutige Fußabdrücke? Er hat Zugang zu einer Mord-App, die Aufträge und Mörder verbindet, ist aber trotzdem ständig überrascht, dass er auf Leichen stößt? Das legt nahe: Szenarist Rick Remender und Zeichner André Lima Araújo haben Lust auf große Effekte – aber nicht darauf, deren Entstehung überzeugend herzuleiten. Daher finden sich auch immer wieder in den Szenen logische Fehler. Und daher braucht auch der Superkiller ein besonders ausgefeiltes Tötungsritual. Das ist so durchschaubar, dass aus einem Thriller, der mehr hätte sein können, letztlich nicht mehr wird als ein solide inszenierter Gewaltporno.
Kopflose Augenkunst
Richard Corben war für mich immer geiler Fantasyscheiß. Das Cover von Meat Loafs Album „Bat Out Of Hell“, Motorräder, Muskeln, Action, ordentlich realistisch gezeichnet, ahh, Kunst, die nicht anstrengt! Comics von ihm hatte ich nicht in der Hand, bis jetzt: „Murky World“ ist Teil des Spätwerks des 2020 verstorbenen 80-Jährigen. Optisch ist es erstaunlich satirisch, die jeweils achtseitigen Kapitel aus einer Fantasywelt strotzen vor skurrilen Gestalten, denen die Dummheit oft geradezu aus Mund, Augen und Ohren trieft. Weshalb sie oft mehr an Robert Crumb erinnern als an Meat Loafs Muskelbiker. Dazu gibt's absurde Welten, einfallsreich inszeniert, gutes Licht, das Auge fühlt sich wohl. Der Kopf leider nicht: Die Geschichte mäandert ziellos immer weiter vor sich hin, denn Corbens Dödeln und Dödelinnen fehlen Pointen, es gibt weder was zu Fürchten noch was zu Lachen und so fängt man leider irgendwann an zu blättern. Ich muss wohl mal was anderes von ihm ausprobieren. Möglichst und sicherheitshalber mit einem anderen Autor.
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Polit-Satire? Monster-Spoof? Frank Millers spektakulärer Science-Fiction-Spaß „The Big Guy and Rusty The Boy Robot“ erscheint endlich auf deutsch
Man staunt manchmal, was für Klassiker nach wie vor lange unübersetzt herumgelegen sind. Obwohl sie von Superstars sind – von Frank Miller etwa: Der ist im Comic ja sowas wie Metallica in der Musik. Vor fast 30 Jahren entwickelte er „The Big Guy and Rusty the Boy Robot“, eine aberwitzige Comic-Satire, die es auch schon zu Trickserien-Ehren gebracht hat. Auf deutsch erschien sie nie – bis jetzt. Warum die Zeit vorher nicht reif schien? Rätsel über Rätsel, aber: Nutzen Sie diese ideale Gelegenheit, den einzigartigen Geof Darrow kennenzulernen, so zugänglich wie nie.
Rusty: bubengroß und atomgetrieben
Bei Darrow muss man normalerweise (siehe unten) eine Menge Gewalt wegstecken, und das ist nun mal nicht jedermanns Sache. Die hier von Frank Miller gelieferte Geschichte ist deutlich milder, weil überdrehter: Sie spielt in Japan, wo (alte Monstertradition) wieder mal ein Experiment aus dem Ruder läuft. Dadurch entsteht ein so unzerstörbares godzilla-artiges Ungetüm, dass die Japaner ihre Geheimwaffe losschicken: Rusty, einen bubengroßen, atomgetriebenen Roboter, der pflichtbewusst loslegt – und kläglich scheitert. Nun kann nur noch einer helfen: Rustys größere Version, der US-amerikanische Big Guy.
Schwer zu sagen, was hier am erfreulichsten ist, denn man kann sich so schwer konzentrieren: Sind es Darrows wunderbar spöttische Ansichten des japanischen Großstadtmolochs, mit all der zuckersüßen Werbung? Ist es das traumhaft altmodische Technikdesign seiner Roboter, zwischen Art deco und Bosch-Kühlschrank? Sind es die irrsinnigen Details? Denn auf einem einzigen Darrow-Panel kann man problemlos Viertelstunden verbringen. Probieren Sie's selbst:
Irrsinnsdetails auf jedem Panel
Big Guy, auf der Straße, umzingelt von einer Schar kleinerer Godzillas. Sie sind unmöglich zu zählen, 40, 50, und doch sieht jeder einzelne von ihnen anders aus, genauso wie die Autos auf der Straße, jedes Modell anders. Aus Big Guys ausklappbaren Armgelenken schießen Betäubungsgranaten, es explodieren Autos, Monster, zwischen den Häuserfassaden, und wir sehen das alles von schräg oben, an einem japanischen Strommast vorbei, und Darrow zeichnet natürlich auch noch diesen völlig irrsinnigen Strommast, mit seinen Verteilerkästen, Kondensatoren, seinem Kabelwirrwarr, ein insgesamt hoffnungslos vergnügliches Chaos, und das ist nur ein einziges Bild! Auf dem Frank Miller dem Robohelden auch noch alle edelmütigen Superhelden-Gedanken der 70er in den Blechmund und -kopf legt, weil es ja gilt, in den Monstern das Leben verseuchter Mitbürger zu schonen.
Wie dieser herrliche Unfug entsteht, ist schwer vorstellbar, es scheint aus Darrows Hand zu fließen wie bei anderen Leuten Krakeleien beim Telefonieren, aber Darrows Kopf schaltet offenbar nie ab, er wiederholt einfach nichts. Grade hab ich beim neuen Asterix 36 identische Pferde beklagt, bei Darrow wäre nicht vorstellbar, dass sich davon zwei auch nur ähneln. Nur etwa 70 Seiten hat die Geschichte, dazu gibt es eine Extrastory (die ausgiebig US-Bürger von ihrer unansehnlichen Seite zeigt) und jede Menge frei erfundener Comic-Cover (wie Big Guys Kampf gegen das Mondschwein oder Captain Tschernobyl): Man kann mit dem Lesen und Gucken problemlos Tage verbringen und hat dann immer noch nicht alles gesehen. So viele Häuser, Menschen, Geschäfte, alles, alles immer wieder skurril anders. Wie die trinkenden Affen.
Rauchende Schildkröten, trinkende Affen
Die sind nicht in „Big Guy“, die sind in Darrows nagelneuem, bislang nur auf Englisch verfügbaren Band der Serie „Shaolin Cowboy“: „Cruel To Be Kin.“ Wo der blühende Unsinn zwar deutlich blutiger ist, dennoch durch die völlige Absurdität immer noch verträglich bleibt. Darrows Dauerheld mit den chinesischen Wurzeln wird diesmal in einer Wildwest-Wüste von einem Zauberzwerg im lila Kinderkostüm überfallen. Der steuert in einem merkwürdigen altmodischen Motorstuhl eine gigantische Monsterqualle. Und attackiert den Cowboy mit einem Schwarm Möwen sowie zwei Skeletten in einem rostigen Renault R4, und… ja, ich weiß, wie irrsinnig das klingt.
Man muss, um das gut zu finden, nicht einmal Möwen, Skelette und R4 für den Superwitz halten, es ist einfach unglaublich, welcher unerschöpfliche Ideenreichtum durch die Bilder purzelt. Jede Möwe hat einen eigenen Auftritt, manche von ihnen rauchen ebenfalls. Gelegentlich beobachten auch rauchende Schildkröten die episch-dämlichen Zweikämpfe. Die Wüste ist voller Skelette, kaputter Autos, gigantischer Kröten, voller Abfall und dieser allgegenwärtigen amerikanischen Müllsäcke. Und wenn die Müllsäcke durch die Gegend geschmissen werden und zerreißen, dann überlegt sich Darrow auch noch detailreich, was da wohl für Müll rausfliegen könnte, und welche Schmiererei an welchen Felsen passt, ruckzuck ist schon wieder ein halber Abend dahin und man ist kaum zehn Seiten weitergekommen.
Extrem preis-wert
Viele denken ja zunehmend drüber nach, was Comics kosten. Darrow-Comics gehören zum Preiswertesten, das man kaufen kann. Weil man auch, wenn man die Geschichte längst kennt, immer und immer wieder die Seiten durchblättern, die Panels durchsuchen kann, und man wird, ungelogen, ständig aberwitzige Details finden, die man bislang verpasst hat. Was den Mehrmals-Lesespaß angeht, konkurriert Darrow mit den Allergrößten, mit Asterix, mit Lucky Luke, mit den Peanuts.
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Liegt's am Schnee oder an der Dunkelheit? Zwischen den Jahren gibt's zwei melancholische Manga-Tipps. Bei einem davon hat sogar ein Häuptling geweint!
Zwischen den Jahren arbeitet es sich etwas leichter durch den Comic-Stapel, der auch deshalb wächst, weil man Tipps aus der Vergangenheit kriegt. Das führt heute zu zwei Manga-Empfehlungen, die auf Anhieb gar nicht so viel miteinander zu tun haben, die aber doch eines verbindet: Sie investieren reichlich Zeit in den Aufbau, um dann fulminant die Ernte einzufahren. Und ja, ich habe schon Mangas beschimpft, die ewig nicht vom Fleck kommen: Aber bei diesem Duo ist die Relation von Vorbereitung zu Ernte absolut angemessen.
Blöde Jobs und Essen von Mutti
Tipp Eins stammt von Häuptling Berufener Mund, einem der großen Comic-Indianer. Mit dem sprach ich jüngst über diesen Comic. Bei dem, sagte der Häuptling, sei ihm das Herz schwer geworden, und seine Augen hätten das Wasser freigegeben wie die Blase des bedürftigen Bisons in der endlosen Prärie. Oder so. Was zuletzt beim Comic „Solanin“ geschehen sei. Wenn aber Häuptling Berufener Mund weint wie ein Waschweib, dann prüft man besser, ob einem was entgeht, wenn man nicht mitheult.
Tatsächlich ist „Solanin“ ein erstaunlicher, sehr erwachsener Manga. Was man sofort mitkriegt, weil die Story um die Twens Meiko und Naruo recht raffiniert eingeführt wird: Ein Paket, das für Meiko ankommt, gegengeschnitten mit Naruo, der nach Hause rollert. Naruo kommt an, der Paketbote geht weg, beide begegnen sich am Briefkasten – Zoom aufs Wohnungsschild mit den Namen von Meiko und Naruo. Da ist viel Film, man muss gucken und aufpassen und nicht weiterhasten, nur weil im Panel grade kein Text ist. Geduldig fächert Autor Inio Asano dann die verunsicherten Leben der beiden und ihrer Freunde auf: Öde Jobs, verschüttete Träume, eine wacklige Beziehung, nirgends richtig angekommen, noch nicht richtig erwachsen, und Mutti schickt noch immer Essen für den Kühlschrank. Und dann, gerade als Asano eine Perspektive und Zukunft eröffnet, lässt er das Schicksal brutal zuschlagen.
Teil zwei: So einfühlsam wie selten
Die gesamte zweite Hälfte der abgeschlossenen Serie widmet er daraufhin so einfühlsam dem Umgang der Gruppe mit den Folgen, dass man sich nicht mehr wundert, warum Häuptling Berufener Mund sehr gerührt ist. Auch ein bisschen traurig ist allerdings, dass vom (auf deutsch zweibändigen) Comic nur Band 1 noch auf Papier lieferbar ist. Zum Nachlesen von Teil 2 brauchen Sie entweder ein E-Book, eine gute Stadtbibliothek, oder aber Sie wechseln je nach Sprachkenntnissen zur englischen/italienischen/französischen Ausgabe. Da wird nämlich munter nachgedruckt. Zu Recht.
Die Angst der Spieler vor dem Match
Tipp Zwei ist der inzwischen erschienene letzte Band der ausgezeichneten Serie „Ping Pong“, auf die ich (ahem) bereits hier hingewiesen habe. Dieser dritte Teil zeigt auf eine etwas andere Art, wie sich geduldiger Aufbau auszahlen kann. Denn wer gleich mit diesem Band anfängt, kann eigentlich gar nicht mal so viel Freude am munteren, extrem schnell und einfallsreich geschnittenen Geschmetter haben. Wer hingegen das Heranwachsen der jungen Spieler Peco und Smile verfolgt hat, ihre Niederlagen, ihre Kämpfe mit sich und dem Halb-Erwachsenwerden, die aufrichtigen Bemühungen ihrer geduldigen Trainer, der wird vor jedem der Duelle Angst haben. Weil man von Spiel zu Spiel weniger möchte, dass einer der Protagonisten verliert. Zumal ein Großteil der Geschichten auch den Druck und die Ängste der Jungs einschließt: Ich kenne kaum einen anderen Comic, bei dem sich die Protagonisten 8-Mile-artig vor Nervosität kotzend auf der Toilette einschließen.