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Comicverfuehrer

Fern-Trips sind klimaschädlich? Mit Emmanuel Lepages Bildern wird „Die Reise zum Kerguelen-Archipel“ zur Nah-Erholung

Illustration: Emmanuel Lepage - Splitter Verlag

Lust auf Urlaub, aber keine Zeit? Lust auf Ganzweitweg, aber Klimasorgen? Da hätte ich was. Wenn der Urlaub etwas abenteuerlicher sein darf: Mir ist nämlich Emmanuel Lepages „Reise zum Kerguelen-Archipel“ aus dem Jahre 2012 in die Hände gefallen. Und auf diesen 150 Seiten kommen Lepages Stärken weit besser zur Geltung als in seiner mehr sehens- als lesenswerten Reportage „Frühling in Tschernobyl“.


Réunion – und dann ganz weit runter

 

Grob sortiert ist beides Comic-Journalismus, aber: Lepage ist kein Enthüllungsreporter, was beim brisanteren Thema „Tschernobyl“ ungünstig war. Bei den Kerguelen ist das anders: Die gehören zu Frankreich und liegen an einem der vielen Ärsche der Welt, sehr weit südöstlich der Südspitze von Afrika im Indischen Ozean, schon ziemlich nahe an der Antarktis. Frankreich betreibt dort eher skandalfreie Forschungsstationen. Weshalb es da mehr zu erleben gibt und weniger zu enthüllen.

Illustration: Emmanuel Lepage - Splitter Verlag

Schon der Weg dorthin ist umständlich. Man fliegt nach La Réunion und besteigt dort die „Marion Dufresne“, ein Spezialschiff, das Treibstoff und Vorräte zu den 2000 Kilometer entfernten Inseln transportiert, aber auch zu Forschungszwecken dient. Theoretisch ist das also das Idealversteck für Dr. Mabuse, tatsächlich forscht man dort zu Geologie, Wetter und anderen so harmlosen Dingen, dass man auch ein paar Laien mitnehmen kann. Vor Lepage liegt also kein Investigativ-Trip, sondern sowas wie Hurtigruten extrem. Aber das ist wie für ihn gemacht.


Normale Leute als Härtetest


Der heimliche Star des Bandes ist natürlich das Schiff, die „Marion Dufresne“. Die erste Begegnung, der riesige Rumpf, das Schiff nachts im Hafen im Mondlicht. Aber das wirkt eben nur, wenn man den Star nicht totzeichnet. Was reicht man also dazu? Die Menschen, die Crew an Bord, sich selbst akkurat und realistisch. Zuviel Bauch, zu wenig Haare, ein paar schiefe Zähne, lauter normale Leute. Stille Porträts mit Gruppenbesprechungen, es dauert nicht lang, da fühlt man sich als würde man mitreisen. Ab da beginnt der Härtetest.

Illustration: Emmanuel Lepage - Splitter Verlag

Denn so aufregend Seereisen klingen, so oft droht Langweile. Lepage zeigt die Tätigkeiten der Crew (Schläuche ausbessern), den Maschinenraum, die Rohre im schicken Halbdunkel, das Bordhandwerk, all das so, dass man das Schmieröl riecht. Er zeichnet viel in schwarz-weiß, um dann immer wieder mit üppigen Farben zu betonen und zu belohnen. Und er nutzt sein Talent zur Bildregie: Schiff allein ist öd, also zeigt er den Blick vom Bug aufs Schiff, die grellweißen Aufbauten, die blaue See und die Gischt, die seitlich über die Reling spritzt, praktisch ins Gesicht. Den Gegenschnitt: Sich im Stuhl, den Rücken zur See, das enorme Heben, das brachiale Senken, den Aufprall, wenn der Bug des Zehntausendtonners zurück in die See klatscht. Dann sich selbst, seekrank in der Koje: „Ich habe 15 Minuten durchgehalten“.


Technik: Inzeniert statt nur gezeigt


Überhaupt weiß Lepage, dass Technik besser wirkt, wenn man sie nicht nur zeigt, sondern auch inszeniert. Aus dem Aus- und Einladen bei ungünstigstem Wetter erstellt er geschickt fesselnde Actionsequenzen. Und Hubschrauber lässt er richtig gut aussehen: Da sitzt jede Einstellung, der Winkel im Anflug, die Landschaft darunter.

Illustration: Emmanuel Lepage - Splitter Verlag

Apropos. Die Landschaften. Die Tiere. Die Einsiedlerkrebse. Die Pinguine. Die Seekühe. Wale. Auf gigantischen farbigen Doppelseiten, gut platziert nach stilleren Panels, die Ruhephasen an Bord fühlbar machen. Dazwischen macht Lepage Ausflüge ins Historische, mit den Segelschiffen des Entdeckers Yves Joseph de Kerguelen, den zerfallenden Fabriken für Walöl und Dosenlangusten. Man sitzt bequem auf dem Sofa und ist erstaunlich gut dabei. Die Fahrt ließe sich übrigens offenbar auch tatsächlich buchen – aber dennoch ist der Band keine teure Werbebroschüre.


Nachhaltiger Comic-Trip


Denn erstens hat man nicht unbedingt 9000 Euro zur Hand. Und zweitens gibt’s auf der „Marion Dufresne“ nur acht bis zwölf Plätze, weil die Hauptsache ja Transport und Forschung sind. Bedeutet: Pro Jahr können das rund 30 Leute mitmachen. Was auch erklären würde, warum die Buchung so mühsam zu finden ist: Das Ganze ist nicht als Business gedacht, man will auch weitere invasive Arten auf den Inseln vermeiden. Was den Comic doppelt nachhaltig macht.

 


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Etwas Vergangenheit, etwas Englisch: Diese Zutaten sind Ihr Ticket zum wohlig-warmen Eintauchen in Seths neuen Nostalgie-Pool

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Es gibt Neues von Kanadas bestem Kummerbund: Seth! Nämlich „Palookaville 24“! Ich war von der ersten Seite an sofort gerührt, wieder mal, aber ich ahne auch: Das geht wahrscheinlich nicht allen so. Deshalb, je nach Veranlagung, eine kleine Vorwarnung – oder eine dringliche Empfehlung.


Sensibler Suchtfaktor


Streiten kann man etwa über seinen cartoonig reduzierten Stil, der immer wirkt wie Familie Feuerstein in schwarz-weiß mit Ergänzungsfarbe. Das sieht so freundlich, so harmlos aus, dass man es auch als banal abtun kann. Seine laaangsame Art zu erzählen. Kann man für laaangweilig halten. Und dieser wehmütige Grundton. Gibt sicher einige, die Seth für eine Spaßbremse halten. Aber je älter Sie sind, desto eher rate ich: geben Sie ihm eine Chance. Wenn Sie ein bisschen Englisch können, denn von Seth gibt es einiges auf deutsch, die Reihe „Palookaville“ leider nicht.

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Was daran liegt, dass sie weder Comicheft noch Graphic Novel noch sonstwie schubladisierbar ist. „Palookaville“ ist ein fortlaufender, unregelmäßiger Einblick in die Arbeit des 61-jährigen Kanadiers, der eigentlich Gregory Gallant heißt. Die Einzelteile seiner Graphic Novel „Clyde Fans“ (gibt's deutsch) hat er in diesen Bänden veröffentlicht, genauso macht er es jetzt mit „Nothing Lasts“, seinen Jugenderinnerungen. In Band 24 geht’s um einen Ferienjob in einem Fischlokal am See. Und eine typische Seth-Seite sieht dabei so aus: Aufgeteilt in 20 gleich kleine Panels, fünf Reihen zu je vier Stück.


Hypnotisches Erzähltempo


Der Sprechtext läuft gleichmäßig über die einfachen Zeichnungen: ein Haus, ein Gesicht, ein Gegenstand. Manchmal trennt Seth auch ein großes Panel in viele Einheiten, als hielte er ein weißes Gitter vors Bild. Auch hier läuft der sparsame Text gleichmäßig drüber, was ein geradezu hypnotisches Erzähltempo ergibt. Und was erzählt er?

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Normales. Wem das Fischlokal gehörte, warum er dort arbeitete (wegen einer Dierdre, die dort ebenfalls jobbte). Was sein Job war, wie das Gebäude aussah, die Geräusche, die Stimmung. Wer dort abends auftrat. Wie er sich vom Spüler zum Koch hocharbeitet, mal getadelt, mal gelobt. Wie er die Geborgenheit der festen Abläufe schätzt. Erstaunlich ist, wie schnell der Kopf anfängt, Seths Fischlokal in Echtzeit in eigene Ferienjobs zu übersetzen. Bei mir: Eine Druckerei, Spätschicht, Sommer 1986, nach acht lähmenden Stunden mit einem Automaten-Bier auf dem Dach sitzend, mit dem Blick in die warme Nacht. Und obwohl es sich damals anders anfühlte, denkt man heute: war eine gute Zeit. Wie macht Seth das nur?


Seth triggert Erinnerungen


Mit Symbolen. Die schlichten Zeichnungen sind zugleich präzise und doch so generalisiert, dass sie eigene Erinnerungen triggern. Wie bei der Doppelseite voller Gegenstände. Das Auto, das er damals gern fuhr, ersetzt ein Duftbaum, ein altmodischer Zeigertacho, der Zündschlüssel. Er zeigt einzelne Handgriffe des Spülens. Inszeniert geschickt leere Orte: Eine alte Scheune oder die Küche, in die ein Lichtstrahl fällt. Bäume in der Nacht. Menschenleere, Details, Zooms bremsen den Betrachter so sehr, dass der Eindruck entsteht, man könne mit Seth dorthin zurückkehren, sogar überall hin zurückkehren, für einen verzauberten Augenblick. So kompakt Text und Bild auch wirken, die Langsamkeit lässt Luft und Platz für eigene Gedanken. Bis das Auge selbst den Staub, die Patina ergänzt, bis das Ohr zirpende Grillen ins nächtliche Panorama mixt.

Illustration: Seth - Drawn & Quarterly

Wer das lieben gelernt hat, bekommt kaum genug davon. Und erhält in „Palookaville 24“ zusätzlich einen besonderen Einblick in Seths sehr wohl vorhandenen, stillen Witz. Eine DVD ist beigelegt, mit einem Kurzfilm, der zeigt, dass Seth seine Nostalgie-SlowMo auch komisch einsetzt. So hat er für einen Band bereits den absurden Comicsammler Wimbledon Green erfunden, oder die Bruderschaft der kanadischen Comiczeichner, samt Vereinsheim. Jetzt fabuliert er vom fiktiven Zeichner Albert Batch.


Die erfundene Karriere


Und das tut er gründlich: Er erfindet Batchs Zeitungscomic-Serie „Trout Haven“ samt ihren Hauptprotagonisten, zwei Forellenanglern. Er entwickelt als Hommage an zahlreiche reale Strips auch die „Trout Haven“-Nebenrollen, vom Ortspfarrer über den Polizisten zum Postboten und zum heimlichen Star der Serie, dem Dorfdepp. All das erzählt er im Film mit einem rührend halbdilettantisch gebastelten Puppentheater, das auch das letzte Zimmer des gealterten, verarmten Zeichners zeigt. Sein Sofa, den Plattenspieler, Bücher. Und dann zeigt Seth den letzten Strip, drei der vier Panels sind bereits gezeichnet, es fehlt nur noch der Text, das letzte Panel – bleibt leer. Und als Sahnehäubchen gibt's die Sterbeszene, in der dem alten Mann dämmert, wie er seinen Strip viel besser hätte machen können... Grandioser, liebenswerter Unfug von einem Comicfan, Sammler, Alltagsphilosoph, der selbst stets im Dreiteiler mit Hut auftritt. Altmodisch, bescheiden, jemand, der Zigaretten noch aus einem Etui holt, ein antiquarisches Gegenstück zum dandyhaften Tom Wolfe.

NOSTALGIKER IN SCHÖNEM LICHT: SETH Foto: Luc Chamberland

Man kann Seth als einsteigerfreundliches Gesamtkunstwerk verstehen: Seine Nostalgie ist jederzeit zugänglich, es gibt keine Handlung, die man aus den vorherigen Bänden kennen müsste. Es gibt (wahrscheinlich) nur eine einzige Empfehlung: Man sollte so alt sein, dass man schon was vermissen kann.




 



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Mehr von Kafka, dem Jahrhundert-Toten: Nicht nur zwei Comics sind zu entdecken, sondern auch die Zeichnungen des Schriftstellers selbst

Illustration: Franz Kafka - C. H. Beck

Es kafkt weiter, geradezu kafkadenhaft. Und zu Recht: Immer wieder fällt auch durch die Comic-Versionen die reizvolle Kauzigkeit des gerade jahrhundertlang Toten auf, sein wehleidiger Witz, seine absurden Ängste, die heutigen wie damaligen Lesern genauso nahekommen wie sie ihnen zugleich fern liegen. Und siehe da: Kafka selbst hat auch gezeichnet. Wie gut er seine Arbeiten selbst fand? Vermutlich ungefähr so: „Ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen.“


Zersäbelt wie alte Bravohefte

Illustration: Franz Kafka - C. H. Beck

Da sind sie also, Kafkas Zeichnungen: Schon schick. Oft sehr knapp, auf den Punkt. Manchmal schön schwungvoll, wie der Fechter (ganz oben), manchmal aus wenigen, eleganten Kurven und Kringeln zusammengesetzt. Meistens spielerisch, der Charme besteht auch in der Kombination aus geringem Aufwand und unerwartet viel Wirkung. Aber für mehr waren sie erkennbar nicht gedacht. Und so viele von ihnen gibt es auch gar nicht. Interessanter ist daher eigentlich die hier schön aufgearbeitete Geschichte ihrer Veröffentlichung bzw. ihrer langen Nichtveröffentlichung.


Auf dem Nachlass saß ja lange Kafkas Schriftstellerfreund Max Brod, der sich erst zierte, dann ein paar Zeichnungen als Appetithäppchen herumreichte, um sie später doch lieber seiner Sekretärin zu schenken. Die sich genauso hartnäckig und bruthennenartig darauf niederließ. Bei der 2022 endlich erfolgten Veröffentlichung zeigte sich schlussendlich, dass Brod die Zeichnungen nicht viel rücksichtsvoller behandelt hatte als die Texte: Er säbelte Kafkas Zeichnungen nach Gutdünken mit der Schere aus dessen Skizzenheft wie weiland jugendliche Fans die Fotos ihrer Lieblingsband aus der Bravo. Aber warum sollte gerade dieses KafKapitel normaler sein als die anderen?



Der Interpret

Illustration: Moritz Stetter - Knesebeck Verlag

Kafka und Farbe? Geht das? Die meisten Comic-Zeichner sehen ihre Kafka-Versionen ja eher in schwarz-weiß. Moritz Stetter nicht. Seine Umsetzung von Kafkas „Urteil“ entfernt sich auch deutlich weiter von naheliegenden Bildern als Crumbs bizarr-groteske Variante. Den mysteriösen Geschäftspartner des Protagonisten Georg verstrickt Stetter in pflanzlich-zopfartige Ornamente, und auch während des harten Dialogs zwischen Georg und seinem Vater lässt er den Sohn durch rätselhafte Gehirnwindungen kriechen, bevor er die Beziehung in den Panels geradezu wörtlich in Scherben zerschmettert. Das ist gut und einfallsreich gemacht, die Zufriedenheit des Lesers hängt hier daher wohl auch von etwas anderem ab: ob er seinen Kafka eher illustriert oder eher interpretiert bevorzugt.

 


Blättern im KafKatalog

Illustration: Danijel Zezelj - avant-verlag

Optisch ist es schon angenehm finster, was Danijel Zezelj da in „Wie ein Hund“ zeigt. Geschickte schwarz-weiße Düsternis, etwas zu viel Froschperspektive vielleicht, aber insgesamt bedrückend und cool zugleich. Doch es bleibt rätselhaft, warum Zezelj sich entschlossen hat, statt einer Originalgeschichte lieber aus Kafkatexten eine eigene Story zusammenzustückeln. Es beginnt mit gut gewählten Auszügen aus „Ein Hungerkünstler“, dieser immer wieder verblüffend zeitlosen Kurzgeschichte über Publikumsgeschmack und Künstlereitelkeit (die Wikipedia zufolge das tatsächliche Abklingen der einstigen Attraktion „Schau-Hungern“ in den 1920er Jahren aufgreift). Aber jetzt dichtet Zezelj plötzlich dem Hungerkünstler die Türhüterparabel an. Dann geht’s zurück zum Zirkus und von da zur Botschaft des Kaisers, alles fulminant bebildert, aber komplett beliebig. Letztlich hält man so einen schön illustrierten KafKatalog in Händen, ähnlich überzeugend wie weiland das Beatles-Medley von Stars on 45“ – was schlussendlich wiederum die Wirkung der Bilder unnötig beeinträchtigt. Schade, eigentlich.





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