Drei neue Comics thematisieren „Sexuelle Identität“. Doch am cleversten für Verständnis und Normalisierung wirbt ausgerechnet: ein alter, weißer Mann
Das Reiz- oder Trendthema „Sexuelle Identität“ ist längst im Comic angekommen, wahrscheinlich sogar mehr als in Buch oder Film: Erstens ist die Community der Comic-Künstler- und -LeserInnen recht aufgeschlossen, zweitens ist sie durch Mangas exzellent eingearbeitet. Die decken nämlich längst mit großer Lust und Freude im Rahmen ihrer flächendeckenden Erotikberichterstattung jede Spielart ab, und das in der gesamten Bandbreite von dezent bis deftig. Der einzige Nachteil: die Schwerpunkte liegen auf „Knistern“ und „Knattern“. Was inzwischen vielen Menschen nicht ernsthaft genug ist. Drei Titel, die zuletzt für Aufmerksamkeit sorgten, versuchen derzeit dieses Defizit zu beheben.
Schubladenhüter
Verbieten muss und kann und darf man „Genderqueer“ natürlich nicht. Doch genau das geschieht derzeit häufig mit Maia Kobabes Graphic Novel, die der Verlag Reprodukt reaktionsschnell als meistzensiertes Buch der USA bewirbt. Nicht zu Unrecht: Denn die American Library Association zählt, wie häufig organisierte Gruppen das Verbot/die Entfernung eines Buches aus einer Bibliothek fordern (und oft auch bewilligt bekommen). „Genderqueer“ ist hier die Nummer Eins, schon das dritte Jahr in Folge. Und eben diesen Comic gibt’s jetzt auch auf deutsch. Lohnt sich’s?
Glück ist: Wie andere von dir denken
Kommt drauf an, ob Sie es mögen, wenn ein Mensch 240 Seiten lang darüber nachdenkt, was in seiner Hose ist und ob er damit glücklich ist und was Andere von ihm denken und was er, aber vor allem auch die Anderen besser machen können. Ich kenne keine Patentwege zum Glück, aber ich behaupte mal: Sich von den Gedanken und dem Verhalten anderer abhängig zu machen, ist mit Sicherheit keiner davon. Daher ergeben viele Überlegungen in „Genderqueer“ etwa so viel Sinn, als verlangten Frauen im Kampf um gerechtere Bezahlung erst mal eine eigene Währung.
Die Suche nach dem Glück ist bei Kobabe eine endlose Suche nach der richtigen Schublade, in der man sich selbst einsortieren kann. Und die stets wiederkehrende Kränkung darüber, dass nicht alle Leute diese Schublade genauso gut (an)erkennen. Selbstironie oder überhaupt einen Funken Humor sucht man vergebens. Überhaupt liest sich alles so freudlos, dass sich der Eindruck aufdrängt, ein Großteil des Vergnügens bestünde im Eintauchen in die Opferrolle. Denn, wohlgemerkt, Kobabe erzählt nicht etwa von (real existierenden) Verfolgungen der LGBTQ-Gemeinde, sondern vor allem von einer Sorte Ärger, die zum Beispiel auch Leute kennen, deren Namen dauernd falsch ausgesprochen wird.
Erschlagen vom Namedropping
Kennen Sie Rudi Dutschke? Ja? Und Elmar Altvater? Nicht? Genau das ist das Problem mit „United Queerdom“. Oder eines der Probleme von Kate Charlesworths Max-und-Moritz-bepreistem Graphic-Memoir-Queerstory-Hybridcomic. Charlesworth (Jahrgang 1950) erzählt einerseits ihr eigenes lesbisches Leben, und dazwischen in Einschüben die weltweite Geschichte der LGBTQ-Community. Das klappt insgesamt eher mittelgut und bei ihrem Leben noch am ehesten: In Jugend und Kindheit zeichnet sie mit optischer und erzählerischer Selbstironie die Entdeckung der geschlechtlichen Merkwürdigkeiten nach. Doch je älter sie wird, desto mehr verwirren die Dialoge: Wer meint jetzt was? Und warum ist das wichtig? Und so ertappe ich mich zunehmend beim Gedanken: „Muss man wohl dabei gewesen sein.“ Was auch beim historischen Teil gilt.
Das Schwerste ist das Weglassen
Da erschlägt Charlesworth uninformiertere Leser mit allem, was in Kultur und Politik für Schwule und Lesben hilfreich war. Das ist dann, wie wenn Altlinke feuchten Auges erklären, dass 1968 irgendwo auch Elmar Altvater dabei gewesen sei. Wer damals kein Nürnberger war, weiß nicht: Altvater war eine Art fränkischer Dutschke, ein junger, gut aussehender Vordenker. Denkt der neutrale Leser zu Recht: Hm, dann reicht mir eigentlich der Dutschke.
Fokussieren hätte also geholfen. Doch wie jüngst bei „Columbusstraße“ ahnt man auch hier: Charlesworth steckt zu tief drin, will zu viel und keinen vernachlässigen. Das ist aber der Haken bei solchen Projekten: das Schwerste und Wichtigste ist nicht die Vollständigkeit, sondern gerade eben das Weglassen. Und es ist jammerschade, wenn sich jemand viel Mühe gibt, mich zu informieren und dann vor lauter Erinnerung vergisst, dass ich nicht dabei war.
Allmählich stellt sich aber die Frage: Kann ich mir selber noch trauen? Ich bin immerhin ein alter weißer Mann, und ist doch nicht auszuschließen, dass ich nicht diese Comics seltsam finde, sondern die Genderei. Ich habe doch auch über „Ducks“ geschimpft und über Liv Strömquist. Hat mir denn überhaupt schon mal was gefallen? Und just in diesem Moment erscheint mit „Harter Psücharter“ der neue Band von Ralf König.
Einfach, kompliziert, lustvoll, frustriert und: komisch
König ist seit über 40 Jahren im Geschäft, so lang, dass man inzwischen gerne mal übersieht, was dieser Mann da eigentlich leistet. König zeichnet ausschließlich Comics aus der Perspektive einer durch ihre sexuelle Identität definierten Minderheit. Was bei 40 Jahren übrigens auch bedeutet, dass König noch die Zeiten gesetzlicher Verfolgung kennt (der § 175 wurde wann abgeschafft? 1994!). König hat seither Gut- und Bestseller geschrieben. Und was passiert in denen? Jammern seine Schwulen dauernd, wie blöd es ist, dass sie einen Schwanz in der Hose haben? Dass man sie nicht als richtige Männer ansieht? Dass die Heteros doof zu ihnen sind? Dass niemand sie ernst nimmt?
Die Gagbrücke zum Perspektivwechsel
Wer Königs Geschichten liest, lernt über die Gagbrücke die schwule Perspektive kennen, die zugleich komplett anders ist und komplett genauso. Er taucht schmunzelnd in diese einfache, komplizierte, lustvolle, frustrierte Welt, und wer nicht komplett verklemmt ist, der kann danach schwule Nachbarn unmöglich noch als Bedrohung oder Affront sehen. Dabei spart König kein Thema aus: Einsamkeit, Tod, Alter, Aids, sämtliche erotischen Spielformen, alles ist dabei. Übrigens auch das Entdecken seiner eigenen Schwulheit, das ich wesentlich nachvollziehbarer und unterhaltsamer in Erinnerung habe als jede Seite von „Genderqueer“.
Und, noch bemerkenswerter, König passt seine Protagonisten nicht an. Bei König gibt's kein schwul-light. Mal kriegen Konrad und Paul bei einem befreundeten Pärchen ein selbstgemachtes Faustfick-Video vorgeführt, im neuen Band entdeckt Paul, dass er Duftkosmetik für Männer durchaus gern riecht, vorausgesetzt sie kommt „auf den Bart, nicht auf die Rosette!“ Da ist nichts angedeutet, das knallt hart wie eine Bratpfanne, und genauso macht man Humor, der tatsächlich was bewegen kann.
Verführerischer Mix: Sex und Humor
Ein Geheimrezept Königs sollte man dabei nicht verschweigen: Er kann den Humor so stufenlos runterregeln, dass Sex trotz seiner Karikaturfiguren spannend und, hm, interessant wirkt. Und, verdammt nochmal, das ist doch der Grund, warum man Königs Schwule so mag: Weil man fast schon neidisch zusieht, wie sie Spaß mit sich und anderen haben und von ihrer Umgebung nur eine Kleinigkeit verlangen. Nämlich dass man sie beim Spaß bitte nicht stört.
Mehr Wumms mit Konrad, Paul und Mangas
Was umgekehrt die Frage stellt, warum gerade die weniger vertrauten sexuellen Identitäten so oft auf die Opferrolle setzen und so selten Leben und Lebensfreude ins Schaufenster stellen. Denn das ist doch das Erfolgsmodell hinter König, Mangas und Christopher Street Day: nicht lang diskutieren, sondern ausleben, fantasieren, mitmachen lassen. Und, nein, das heißt auch nicht, dass jede Lesbe jetzt den König machen soll. Man kann sich auch was drittes einfallen lassen, wie beispielsweise Stephen Appleby mit „Dragman“.
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Die Outtakes (15): schlecht alternde Schwänze, ein verstrahlter Vater und ein verpasster Urlaubstraum
Fantasy mit Schlenkerschwanz
Verdacht bestätigt: Richard Corben ohne Autor ist schwer erträglich. Dabei liegt vor mir das unbestrittene Meisterwerk des Kult-Zeichners aus den 70ern, nämlich „Den“, gerade erst neu aufgelegt. Ein schmächtiger Kerl fällt durch irgendein Dimensionstor und findet sich als nackter Muskelmann mit Schlenkerschwanz (vorn, nicht hinten) in einer seltsamen Welt wieder. Die Ungewissheit ist noch das Beste an der Story, und sobald dieses Rätsel gelöst ist, gibt’s nur noch Sätze, die so platt sind, dass jeder Pfannkuchen hochalpin wirkt. Optisch hingegen ist alles da, was das Fantasyherz begehrt, Nackte, Monster, Waffen, Gewalt, alles in abenteuerlich psychedelischen Farben. Kleiner Nachteil: die Nackedeis sind meist näher an Robert Crumb als an Neal Adams oder Frank Frazetta. Aber die Zahl von Corben-Fans ist Legion, und die können sich nicht alle irren, oder?
Rechts überholt
Tja, „Der große Reset“ war Max-und-Moritz-Preis-Kandidat 2024. Und das Thema ist auch gut: Was tun, wenn Familienmitglieder in die Verschwörungsschwurbler-Ecke abdriften? In diesem Fall ist es Vati. Seine Frau und die arbeitslose Tochter sind in die Resignation abgetaucht, und die studierende Tochter auf Heimatbesuch wird erst wieder aufatmen, wenn sie abfährt. Ika Sperling bringt viele hübsche Ideen unter: Im Auto kullern Bierdosen in jeder Kurve von Seite zu Seite, Vater ist nur noch ein durchsichtiger Geist auf Abruf, und aus banalen Details wie dem Anlegen des Rucksacks holt sie eine hübsche kleine Ein-Frau-Choreografie. Das Hauptproblem ist, dass die Zeit Sperlings Ansatz überholt hat: „Der große Reset“ ähnelt dem, was Comics zu Themen wie „Depression“ oder „Autismus“ tun. Aber deren Probleme sind weniger bekannt, wohingegen fast jeder inzwischen einen kennt, der sich in die Idiotie verabschiedet hat. So bleibt eine Geschichte die gut lesbar und ansehnlich ist, aber letztlich den hilflosen Normalgebliebenen nicht wirklich weiter hilft.
Furchtbar weit und furchtbar ernst
Oh Mann, das ist schade, „Transit Visa“ klang so vielversprechend urlaubsreif: Zwei Jungs um die 20 fahren in den 80ern einen schrottreifen Citroen Visa quer durch Europa seinem Ende in der Türkei entgegen. Was mich sofort getriggert hat:
Denn 1979 saß ich selber neben meiner Schwester hinten in einem Citroen DS, fuhr mit den Eltern quer durch die Türkei, die schon kurz hinter der Küste nichts mehr mit dem Touristengebiet zu tun hatte. Aber meine Nostalgie bedient Nicolas de Crécy leider kaum: Zeichnerisch könnte er es zwar, aber erzählerisch ist er zu beschäftigt damit, sich philosophisch in den Nabel zu schauen. Dazu kommt, dass weder Land noch Leute die Jungs damals interessierten und de Crécy daher schnell das Material ausgeht. Drei Bände hat er im Original gefüllt, zusammen sind das jetzt 400 Seiten, in denen er mit wenigen Ausnahmen praktisch jede hübsche Optik unter humorarmen Grübeleien begräbt. Aber: Für Liebhaber dauerrauchender Franzosen, die sich furchtbar ernst nehmen, ist das womöglich die passende Geschichte.
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Bitter, blutig, einfühlsam: In „Die Nächte des Saturn“ kreuzt Pierre-Henry Gomont die klassische Gangsterballade mit einer ungewöhnlichen Lovestory
Donnerwetter. Echter Knaller. Ein Krimi, eine Gangsterballade, eine Augenweide mit hohem Actionanteil – und noch dazu von einem Autor, von dem ich nicht viel erwartete, weil ich hier über seine „Neuen Russen“ schon ein bisschen geschimpft habe: Pierre-Henry Gomont. Aber es liegt auch daran, dass Gomont diesmal vieles anders und so viel besser macht.
Atmosphäre tonnenweise
Das tut er natürlich nicht wegen mir: denn „Die Nächte des Saturn“ hat er schon 2015 gezeichnet, sie erscheinen aber erst jetzt auf deutsch. Was dabei auf Anhieb überzeugt, ist die Optik. Gangsterballade heißt ja: Atmosphäre ist superwichtig, Alain Delon im Trenchcoat und im Regen kann schon den halben Film ausmachen. Hier haben wir viel Nacht, viel Autofahren, Leute, die warten und rauchen, lenken und reden, leere Straßen, nächtliche Autobahnen. Gomont bringt tonnenweise Atmosphäre in dunklem Blaugrün, schummrigem Leuchten, diesigem Nebel, viel aquarellige Fläche, durch die sich weißes Licht schneidet. Jetzt müssten diese Leute nur noch was Sinnvolles zu tun bekommen...
Und hier hat Gomont diesmal Hilfe. Er hat einen Roman des Franzosen Marcus Malte adaptiert. Wie der sich im Original liest, weiß ich nicht – aber die Adaption ist aus einem Guss, 160 geschickt getimte Seiten, das muss man auch erst mal hinbekommen.
Rache nach 15 Jahren Knast
Die Story: Der alternde Clovis kommt nach 15 Jahren aus dem Knast. Er besucht seinen Kumpel Charles, organisiert eine Waffe und beginnt die Suche nach einem Faber. Rache, klar. 1984 sollten Faber und Clovis für Charles einen Fremden über die Grenze fahren, was extrem schiefging. Faber hatte seither mal eine Disco, ist dann aber untergetaucht.
Um Faber zu finden, benötigt Clovis die Disco-Bedienung Cesaria, die sich in ihn verliebt. Klingt erst wie bei 007, Superhengst trifft Superbrezel, aber falsch: Cesaria ist eine anlehnungsbedürftige Transe, was Clovis teils schätzt (bläst gut), aber teils eklig findet (bin doch nicht schwul!). So dass ihn die Geister seiner Knastvergangenheit schallend auslachen.
Die Kälte der Großstadt
Vor dem Hintergrund dieser teils hingebungsvollen, teils widerstrebenden Beziehung entfaltet Gomont Action und Drama. Es gibt Rückblenden zur verhängnisvollen Nacht 1984, mit exzellenten, knappen, oft fast unwillig geführten Dialogen. Es gibt Ansichten von nächtlichen Großstädten, Tankstellen, so voll Sehnsucht und Kälte, vertraut und ungemütlich, wie ich es sonst nur von Gipi kenne (den er als eines seiner Vorbilder angibt).
Aber im Gegensatz zum supermelancholischen Gipi wird viel rasant gefahren, es wird tödlich geschossen. Und trotzdem findet bei aller Härte, die man am Genre liebt, auch diese Hassliebe zwischen Verletzlichkeit und Schwulenängsten ihren Platz, wird ernstgenommen und trotzdem nicht totgesülzt, es ist eine einzige, seltene Freude. Die neugierig macht, was dieser wandelbare Gomont denn sonst noch so fabriziert hat. Denn im Backkatalog des Mittvierzigers gibt es noch eine Menge, die ich mit meinem grausigen Französisch nicht lesen kann. Übersetzen, bitte!
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