Tröpfelnder Anfang, Freakwave-Finale: Joris Mertens' Deutschland-Debüt „Das große Los“ überrascht mit der verregnetsten Geschichte seit „Blade Runner“
Überraschend. In jeder Hinsicht. Oder nur altmodisch? Es gibt viele Gründe, Joris Mertens‘ „Das große Los“ zu empfehlen, aber auch einige, weshalb man den rundum erstaunlichen Band nicht mögen könnte. Etwa gerade weil er sich so viel Zeit und Platz nimmt. Die Story könnte man nämlich auch im Albumformat auf 48 Seiten runterrattern. Aber so, auf 130 Seiten, ist sie sooooo viel besser…
Comic ersetzt Klimaanlage
1976, wir sind in Paris oder wenigstens einer sehr parisartigen Stadt. Francois ist eine Verlierergestalt, Anfang oder womöglich sogar schon Ende 50. Er arbeitet seit sieben Jahren als Ausfahrer für eine Reinigung, keinen Tag krank, keinen Cent mehr Lohn. Sein Lichtblick in der Trostlosigkeit ist derselbe wie der von Millionen anderen Menschen: Hoffnung auf den Lottogewinn. Das liest sich unschön und frustig, stimmt. Aber was Joris Mertens in den ersten 70 Seiten aus diesem Frust rausholt, ist beeindruckend.
Denn einerseits ist dieses Vielleichtparis nass, grau und kalt. Es regnet, permanent, man friert auf jeder Seite, und ich schwöre: Wenn der Sommer so heiß wird wie der letzte, ersetzt dieser Comic jede Klimaanlage. Und trotzdem ist es das buntschillerndste Grau, das ich je gesehen habe. Weil Mertens das Paris der Vergangenheit zelebriert.
Schwachkopf im Team
Ja, die Stadt ist wolkenverhangen, ersäuft in Regen und Autoverkehr. Aber zugleich reflektiert die nasse Straße, das glänzende Kopfsteinpflaster die gigantischen Leuchtreklamen, die Schaufensterauslagen, die Glasfassaden, die Café-Schriftzüge, die Bremslichter der vielformigen Autos.
Durch dieses Kannsein-Paris, das er auf ganz- und doppelseitigen Panoramen, in großzügigen Boulevardszenen ausbreitet, schickt er seinen Francois im klammen Jackett mit eingezogenem Kopf, hochgeklapptem Kragen. Und als ob der Regen nicht genug wäre, drückt er ihm einen idiotischen Kollegen als neuen Beifahrer aufs Auge. Aber das reicht natürlich nicht. Also: Was macht man dann, nach 70 Seiten triefend bunter Friererei mit einem Schwachkopf am Steuer?
Geld, Gewalt, Gewissen
Dann macht Mertens etwas, was sich wenige trauen: Er langt richtig hin. Viel Geld, viel Gewalt, viel Gewissen. Wendung, Doppelwendung, weitere Wendung, wie eine Gabel voll Spaghetti in der Sauce, spoilern mag ich hier gar nicht. All das wird sauber aufgerollt und verheddert, bis es mit einem Haps im hungrigen Leser verschwindet. Radikal, rücksichtslos, extrem lecker. Das würdige Ende der verregnetsten Geschichte seit „Blade Runner“.
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„Der Junker von Ballantrae“: Robert Louis Stevensons hakeliger Romanklassiker überwältigt mit der Bilderflut des kaum bekannten Franzosen Hippolyte
Wer zum Teufel ist dieser Kerl? Ich habe gerade Hippolytes Comic-Band „Der Junker von Ballantrae“ in den Händen, der ist eine unglaubliche Augenweide. Absolut. Und jetzt fängt das Rätseln an: Was ist das für ein Kerl, der diese Geschichte hingezaubert hat? Denn: Der Band mit dem „Junker“ ist schon 16 Jahre alt. Und der Zeichner tauchte seither kaum noch auf. Wie kann das sein?
Hippolyte ist sein Pseudonym, tatsächlich heißt er Frank Meynet, Jahrgang 1976. Und es gibt einen Grund, weshalb der französische „Junker“ ein Dutzend Jahre unübersetzt im Regal von Verleger Philipp Schreiber zugebracht hat: Die Geschichte ist etwas sperrig. Allerdings ist sie auch weltberühmt, wurde 1953 mit Errol Flynn verfilmt und ist im Original ein Roman von Robert Louis Stevenson (genau, der mit der Schatzinsel). Also nahm Verleger Schreiber den Junker vom Regal und das Geld in die Hand, das sie ihm beim Deutschen Verlagspreis 2021 in die Hand gedrückt hatten. Und gönnte sich und der Welt Hippolytes Version auf deutsch.
Eine Familie zwischen den Fronten
Es geht um eine adlige Familie in Schottland, die im Krieg gegen England zwischen die Fronten gerät. Der Vater beschließt: Einer seiner beiden Söhne soll mit den Schotten kämpfen, der andere soll recht englandtreu daheimbleiben. Der Schottenkämpfer entpuppt sich als skrupelloses Windei, das alle Leute um den Finger wickelt und schließlich zum Verräter wird.
Umgekehrt halten alle den braven Daheimbleiber für einen feigen Arsch und hassen ihn, dann kommt das Windei zurück und erpresst den Bruder irgendwie, und ab da wird’s erst so richtig kompliziert. Ist aber egal: wegen der Bilder.
Ehrlich wahr.
Viel Fläche, viel Farbe, viel Licht
Vom Start weg. Hippolyte zeigt die beiden Brüder im neblig sattgelben Wald, geschnitten mit dem Beginn des Krieges, die knallroten britischen Uniformen auf den kühlen grünen Wiesen. Geschickt wechselt er zwischen Close-ups und Totalen, dann gibt’s das Porträt des fiesen Bruders: Ein gigantischer dunkelblauer Dreispitz, drunter der Rock als großer dunkelblauer Keil , aus dem hochgestellten Kragen lugt ein bisschen Gesicht, die enorme Adlernase. All das wirkt unglaublich leicht: Es gibt eine sparsame Bleistiftzeichnung und dann viel Fläche wie aus einem Guss, und dazu etwas Weiß, nicht draufgepinselt, sondern freigelassen.
Und Hippolyte kann alles: Den Landsitz derer von Durrisdeer im winterlichen Grau oder im glühenden Sommer. Die dörflichen Szenen. Das sandgelbe Kopfsteinpflaster. Sattgrüne Abenteuer im indischen Dschungel. Grandiose Segelschiffszenen an Bord des Schiffes von Edward Teach, tödliche Duelle in schwarzblauer Nacht, nur von einigen Kerzen erleuchtet. Sonnendurchschienene Birkenwälder – ein Buch, in dem jederzeit über hakelige Plotstellen hinwegliest, weil man sich weiter und weiter sattsehen möchte. Naja, und wenn der Comic 16 Jahre alt ist, dann muss es doch noch viel, viel mehr von diesem Hippolyte zu entdecken geben. Vielleicht sogar mit etwas eingängigerem als dieser windungsreichen Stevenson-Story...?
Überraschenderweise nicht.
Mehr Ideale als Verkaufstalent
Wer gründlich sucht, findet auf Deutsch schon mal – nichts. Und wenn man nach aufwändigerem Stöbern mal seine Homepage entdeckt, ahnt man, dass dieser Hippolyte offenbar jemand mit Überzeugungen und Prioritäten ist. Und Verkaufserfolge und Gewinnmaximierung sind definitiv nicht seine Nummer Eins.
Der 46-Jährige macht Plattencover für wenig bekannte Musiker, hübsche Plakate und sehr viele Arbeiten, die in den Comic-Journalismus spielen. Über Flüchtlinge, den Bürgerkrieg in Ruanda, lauter Zeug also, das gar nicht so gut zum Abendessen passt. Der Grund, so sagt er in einem Interview, liege in seiner Jugend: Mit 19 schickte ihn seine Mutter in den Libanon, damit er nicht rumgammelt, sondern die Welt sieht. Dort stellte er fest, dass es einer Menge Menschen schlechter geht als ihm selbst. Seither zeichnet er über sie, ihre Welt und begann, sich für sie zu engagieren. Die fiktionalen Comics kamen dadurch offenbar immer ein wenig zu kurz. Sehenswertes findet sich dennoch.
Es gibt viel zu übersetzen – wer packt's an?
Der erste größere Erfolg war eine 2003 Umsetzung von Bram Stokers Dracula, die auch auf Englisch erschien, was auch der Comic „Les Ombres/The Shadows“ 2008 schaffte. Auch ansonsten findet sich in seiner Vita vieles, was sofort Lust aufs Lesen macht, aber nie auf Deutsch erschien. Dazu gehört schwerer Verdauliches wie die Reportage über den Völkermord in Ruanda 1994, aber eben auch ein Band namens „Brako“, auf dessen Cover ich direkt einem unsympathischen Herrn in den Pistolenlauf gucke – was natürlich deutlich unbeschwerteren Genuss verspricht als das Elend der Welt.
Ob’s optisch genauso sehenswert ist wie der „Junker“, kann ich natürlich nicht garantieren, aber wenn’s nur halb so gut ist, bitte ich um sofortige Übersetzung und Veröffentlichung! Ansonsten muss ich wohl mein schimmliges Schulfranzösisch wieder ausgraben.
"Von Mäusen und Menschen": Rebecca Dautremers erstaunliche Umsetzung des John-Steinbeck-Klassikers beindruckt mit einer raffinierten Zutat: gezeichneter Zeit
Also: Die Bilder sind toll.
Und der Text ist exzellent. Weltliteratur, kann man sagen.
Aber ist es noch ein Comic?
Und wenn’s kein Comic ist – was ist es dann?
Mal ganz von vorn: Vor mir liegt ein dicker Wälzer, er heißt „Von Mäusen und Menschen“. Ja, der Roman von John Steinbeck, den ich bisher nie gelesen habe. Die Handlung dreht sich um die beiden Wanderarbeiter George und Lennie in den USA der 30er Jahre. George ist umsichtig, sorgfältig, Lennie hingegen ist langsam, gutmütig, schon ziemlich nahe am Schwachsinn. Es gab mit ihm Ärger bei der letzten Farm, mit einem Mädchen, sie mussten abhauen und sind jetzt auf dem Weg zu einer neuen Arbeitsstelle. Steinbeck beschreibt das einfühlsam, er spricht vieles nicht aus, deutet es geschickt an. Und er arrangiert die Szenen praktisch filmreif. Woher ich das als Steinbeck-Nichtleser weiß?
Weil ich hier tatsächlich den gesamten Romantext vor mir habe. Ungekürzt.
Angenehm lesbar: ein Roman in Häppchen
Die französische Zeichnerin Rebecca Dautremer hat ihn illustriert, und zwar gründlich. Was als Text auf rund 120 Taschenbuchseiten passt, nimmt jetzt im Comic-Band 400 Seiten ein, die aufgeklappt fast die Fläche eines Vinyl-Doppelalbums belegen. Dennoch liest alles sich superangenehm, weil Dautremer soviel Platz hat und ihn nutzt, indem sie den Text häppchenhaft stückelt.
Die Einstiegsszene am Fluss etwa zeichnet sie über fünf Seiten, die Landschaft, die Tiere, eben alles, was Steinbeck beschreibt, in wundervoll detaillierten Bildern. Dann beginnen Lennie und George zu reden: Den Dialog trennt sie in kleine Mehrzeiler, und zu jedem Satz gibt es ein neues Bildchen der beiden. Ab hier wird es gewöhnungsbedürftig.
Eingängig und anspruchsvoll
Nicht, weil es nicht eingängig wäre. Doch Comic-Leser sind es gewohnt, eine Eigenleistung zu bringen. Bilder oder Details zu deuten, die eben nicht im Text stehen. In Steinbecks knappem Text steckt aber alles drin. Jedes Zögern, jede Geste, die Dautremer penibel nachvollzieht. Diese Text-Bild-Parallele wirkt zunächst unnötig, fast redundant. Doppelt redundant, weil die 51-Jährige oft auch noch englische Originalfetzen ins Bild einwebt. Buch-Leser hingegen könnten sich in ihrer Fantasie beschnitten fühlen: George und Lennie kann man sich nicht mehr vorstellen wie man will, Rebecca Dautremer legt sie fest. Erst allmählich zeigt die Französin, womit sie Steinbecks Erzählung bereichern wird: Sie fügt Zeit hinzu.
Sie deutet etwa die dunkle Vorgeschichte an, ohne Worte, wie eine lautlose Erinnerung. Sie spielt Gedanken aus. Weil Lennie Bohnen mit Ketchup genauso liebt wie Streicheltiere, erfindet sie ganzseitige Reklametafeln mit Mäusen, für Bohnen, für Ketchup, für Latzhosen. Und sie wechselt dabei häufig den Stil. Wird die Hauptgeschichte noch weitgehend naturalistisch erzählt, karikiert sie beispielsweise Lennie auf einer Seite im Stil von Winsor McCays „Little Nemo“-Alpträumen. Als George Lennie eine tote Streichel-Maus wegnimmt und sie sicherheitshalber auch noch wegschleudert, fliegt diese als blaue Trickfilm-Maus durchs knallgelbe Bild – und landet supernaturalistisch auf dem Sandboden. Und wenn George Lennie die eigene Farm ausmalt, die sie beide sich für die Zukunft erträumen, dann tauchen die Felder und Tiere plötzlich knallbunt auf wie im sorgsam ausgemalten Skizzenbuch eines kleinen Jungen.
Er-Lesen in Echtzeit
Tatsächlich gelingt es Dautremer so, dem Leser für den enorm dichten, gut lesbaren Text mehr Zeit abzuluchsen, als eigentlich nötig wäre. Weil man mehr guckt, mehr schaut, mehr erforscht. Dennoch entschärft sie den Text nicht. Die Träume von der wunderbaren Zukunft bleiben unerreichbar und verdeutlichen die Trostlosigkeit der Gegenwart. Der glücklichste Moment von George und Lennie bleibt der Abend am Fluss, mit dem das Buch beginnt, der Abend vor dem neuen Job, ein Augenblick selbstbestimmter Freiheit und Entspannung. Das Ergebnis ist nicht nur eindrucksvoll, es ist auch vorlagentreuer als jeder Film.
Dautremers Illustrationsflut reduziert tatsächlich die Optionen des Lesers, aber dafür intensiviert sie die Stimmung. Schlüsselszenen wie die in der Hütte des schwarzen Stallknechts Crooks oder die verzweifelte Annäherung des alten Candy werden plastischer, die Dialoge werden auf echtes Sprechtempo abgebremst: Weil man eben nicht so schnell liest, wie man könnte – sondern nur so schnell, wie es die Bilder zulassen. Dautremers Kunst besteht dabei darin, Bilder zu liefern, bei denen man nicht spürt, dass sie bremsen. Indem sie schön sind oder originell oder ungewöhnlich oder komisch oder, oder, oder.
Ein guter Text in besten Händen
Ist das jetzt ein Comic? Eine Graphic Novel? Ein illustrierter Roman, der aber so gründlich illustriert ist, dass man meint, man bekäme ihn vorgelesen oder würde ihn sich selber vorlesen, während man das Ganze als Film sieht? Ein Graphic Hörspielbuchtheaterfilmdings?
Auf jeden Fall hab‘ ich „Von Mäusen und Menschen“ jetzt gelesen: Es war beeindruckend. Weil John Steinbecks Text bei Rebecca Dautremer in besten Händen ist.