Statt unerträglichem Realismus gibt’s Puppenstuben-Armut: Kristina Gehrmann macht aus Upton Sinclairs Roman „Der Dschungel“ eine harmlose Graphic Novel
Man kann bezweifeln, ob „Migration“ (wie vom Carlsen Verlag beworben) tatsächlich der aktuellste Aspekt an Upton Sinclairs „Der Dschungel“ ist: Unbestreitbar ist, dass die nagelneue Graphic Novel-Version ein Buch in den Blickpunkt rückt, das heute brisanter ist als man es lange für möglich gehalten hätte. Der Roman, 1906 veröffentlicht, ist empörend im besten Sinne, er zeigt Zusammenhänge auf, indem er Entsetzliches schildert, entsetzliche Ungerechtigkeit, entsetzliche Grausamkeit, entsetzliche Hilflosigkeit, er gehört zum Unerträglichsten, was ein Autor seinen Lesern zumuten kann. Jetzt hat Kristina Gehrmann einen Comic draus gemacht. Der ist leider ziemlich harmlos.
Das Original zeigt erbarmungslosen Kapitalismus
Sinclair schildert das Schicksal einer litauischen Großfamilie, die in die USA auswandert. Sie wollen sich eine Existenz in Chicago aufbauen, durch harte Arbeit. Und Journalist Sinclair, der zuvor in Chicagos Fleischindustrie recherchiert hat, schildert minutiös, wie der entfesselte Kapitalismus die Familie systematisch aufsaugt und zermalmt, so wie tausende anderer Familien jener Zeit.
Nicht nur mit endlosen Arbeitstagen für lächerliches Geld: Es geht auch um Arbeitsbedingungen, die sogar den bärenstarken Helden Jurgis Rudkus zermürben müssen. Verletzungen sind an der Tagesordnung, Vorkehrungen gibt es keine, weil man Verletzte einfach durch neue Mitarbeiter ersetzt. Man kann es nicht anders sagen: Die Schlachthöfe und Fabriken verarbeiten nicht nur Kühe und Schweine, sondern die angestellten Männer, Frauen, Kinder gleich mit.
Die Schwachen kämpfen – aber gegeneinander
Sinclair schildert den Dreck, die bittere Kälte im Winter, die Hitze im Sommer, Akkordhetze, durch die Unfälle zu Normalfällen werden. Parallel zeigt Sinclair genauso klar, wie die Armen sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen, der Schwache den Schwächeren betrügt und bestiehlt. In dieser Welt zählt nur das Recht des Stärkeren, und wer Sinclair liest, ist dankbar, dass es heute eine Gewerkschaft gibt, eine SPD, eine Linkspartei, einen Arbeitnehmerflügel in der Union. Als Comic ist das gut, sogar sehr gut vorstellbar, wo liegt also bei Gehrmann der Fehler?
Das mit der Perspektive kriegt sie noch ganz gut hin: Sinclair erzählt in einem verdächtig milden Ton, den Gehrmann mit ihrem Figurenstil auffängt: Ssie verordnet ihren Protagonisten eine mangaartige Niedlichkeit. Jurgis hat etwa große Kulleraugen und eine drollige Knollennase. Aber schon der nächste Schritt misslingt komplett: Sinclair konterkariert seinen Märchentonfall mit erbarmungsloser Präzision, was reale Verhältnisse angeht. Eben diese hässliche Realität mag aber Gehrmann nicht zeichnen.
Sinclair wird drastisch, Gehrmann nicht
Sie zeigt wenig aus Sinclairs Fabrikhöllen, ihr Chicago hat kaum Schmutz, reichlich Platz, selbst die Straßen sind nicht voll – und das in einer Stadt, die von Arbeitskräften derart überlaufen ist, dass die Menschen für einen Job alles geben, inklusive Geld und Sex.
Es ist kaum zu glauben, wie meilenweit Gehrmann ab hier das Ziel verfehlt.
Die Menschen sind bei ihr ordentlich gekleidet, wenn Kinder auf der Straße lungern, legen sie sich saubere Tüchlein unter den Hintern – das ist Armut aus der Puppenstube. Dazu passt, dass Gehrmann Sinclairs drastisch-plastisches Elend gern in Dialogen abfedert. Sich in einem Medium, dessen Stärke das Bild ist, aufs Schriftliche zu verlassen, ist, gelinde gesagt, unglücklich.
Kindstod entfernt, Heiteitei eingebaut
Wirklich ärgerlich aber ist Gehrmanns Neigung, schwer Erträgliches auch noch großzügig zu entfernen und durch Heiteitei zu ersetzen. Wir sehen die strahlende Mangafamilie bei der Geburt des kleinen Antanas im geräumigen Wohnzimmer, wir sehen, wie dumm sich Jurgis beim Wickeln anstellt, aber dass der Kleine nach nur anderthalb Jahren durch die vermoderten Holzdielen der angeblichen Traumhauses fällt und im Schlamm darunter ersäuft, erfahren Gehrmanns Leser nicht – warum auch: von Schlamm und Moderbohlen haben sie nie was gesehen.
Auch vom Tod Onas bei der zweiten Schwangerschaft bekommen sie nichts mit, oder von Jurgis Trunksucht oder Marijas Morphinproblem. Bei Sinclair wird Jurgis Neffe Stanislovas von Ratten aufgefressen, aber wo sollen in Gehrmanns Schnuckel-Chicago Ratten herkommen? Der kleine Kristoforas stirbt bei Sinclair an einer Lebensmittelvergiftung durch den wurstähnlichen Dreck eben jener Ekelfleisch-Fabriken. Pikant, könnte man sagen, aber leider hat Gehrmann Kristoforas komplett aus dem Comic entfernt.
Andere zeigen: Es geht besser
Man hätte sich Vorbilder nehmen können, ja müssen. Eddie Campbell etwa, der in „From Hell“ Londons Enge, Kälte, Elend um 1890 zeichnete, gleichfalls in schwarz-weiß. Oder Barbara Yelins trübes, bleistiftiges Bremen-Portrait in „Gift“. So bleibt nur die Enttäuschung über eine verpasste Chance: In einer Welt, in der immer mehr Demagogen von Trump bis zur AfD hemmungslos Rücksichtslosigkeit predigen, wäre es wichtig gewesen zu zeigen, warum sich die Menschen so mühsam von eben dieser Rücksichtslosigkeit befreit haben. Doch Gehrmann zeigt statt Unerträglichem lieber Unannehmlichkeiten. Und das ist zu wenig.
Kristina Gehrmann/Upton Sinclair, Der Dschungel, Carlsen Verlag, 28 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Poetisch, brutal und boshaft brillant: Ein Band mit Kurzgeschichten des Franzosen Baru macht Lust auf das „Grand Theft Auto“ des Comics
Letztes Jahr hab ich seinen 70. Geburtstag verpennt, aber damals hab ich ihn ja auch noch nicht gekannt: Baru. Der Franzose hat gerade „Hier und dort“ rausgebracht, einen neuen Band mit Kurzgeschichten, er sei ein „Ausnahmekünstler“, steht hinten drauf. Und mir fiel dazu nichts Schlaueres ein als: „Wer?“ Also hab ich, weil um Weihnachten rum Zeit war, ein bisschen was von ihm nachgelesen, um herauszufinden, ob er wirklich so gut ist. Antwort: Ja, sogar noch besser – wenn man mit seiner Art klarkommt, Figuren zu zeichnen.
Nahe an der Karikatur
Das mögen ja viele Leser nicht so sehr, wenn es krakelig wird. Und Barus Protagonisten sind eigenwillig nahe an der Karikatur: Ungelenke Kinder mit spindeldürren Beinen, geltungsbedürftige junge Männer mit naiv-dummen Gesichtern, Rentner mit enormen Bäuchen, geschmackfrei aufgedonnerte Blondinen, eine interessante Sammlung von Körperkläusen und Körperclaudias tummelt sich da. Bei Baru gibt es eigentlich nur zwei Sorten Menschen: Solche, die versuchen, nach mehr auszusehen – und scheitern. Und solche, die den Versuch längst aufgegeben haben. Was zu seinen Geschichten passt.
Baru zeichnet nicht die Welt der Schönen und Reichen. Baru wühlt weiter unten in der Gesellschaft, bei den Arbeitslosen, den Alten, den Ausländern. Erstklassig ist hingegen, wie er diese schwer verkäuflichen Zutaten für exzellente Erzählungen nutzt.
Langsam köcheln – brutal explodieren
„Die Sputnik-Jahre“ etwa spielen in einem ärmlichen Industriestädtchen der Nachkriegszeit, Baru macht daraus ein anrührend-witziges „Fliegendes Klassenzimmer“. Der Schauplatz von „Elende Helden“ ist aussichtsloses Kaff, in dem nur noch Vergreiste und Vergessene leben. Als ein Kind verschwindet, wittern die Verlierer die Chance zum Heldentum – Baru lässt alles schön hochköcheln und dann so brutal wie grandios explodieren.
„Der Champion“ und „Wut im Bauch“ sind Aufsteiger- und Einwandererdramen, aber Baru erzählt sie aus dem Boxermilieu – schon hat dieselbe Story einen ganz anderen Wumms. Genau hier liegt der Unterschied, der Baru so empfehlenswert macht: Er würzt seine Geschichten aus dem Milieu mit Witz, Sex, Gewalt, das Ergebnis ist leicht konsumierbar und aussagekräftig zugleich, wie man es sonst nur von der Sitcom „Roseanne“ kennt oder von der boshaften Computerspielreihe „Grand Theft Auto“.
Baru beherrscht das Licht
GTA passt eigentlich sogar noch besser, weil Barus Optik vergleichbar verführerisch ist. Wenn man hinter seine verzerrten Menschen schaut, findet man plötzlich einen faszinierenden Fotorealismus. Sein bekanntestes Werk „Autoroute du soleil“ leitet er mit der mühsamen Sprengung eines alten Hochofens ein: Wie er das Stahlmonster auf einer Doppelseite mit viel Krawall umlegt, ist schlichtweg überwältigend. Der Rest der Graphic Novel spielt in einem wundervollen französischen Sommer, den Baru in schwarz-weiß derart heiß hinlegt, dass man hinterher schwören könnte, es wäre in Farbe gewesen.
Mit derselben Nichtfarb-Palette skizziert Baru in „Schönes neues Jahr“ die französischen Vororte der nahen Zukunft: Von der Politik aufgegeben, mit Mauern abgeriegelt, feindselig, kalt und nachts verwaist. Das klappt deshalb, weil Baru das Licht beherrscht. Er kann es so dunkel werden lassen, dass man verzweifelt mit der Nase ans Papier rückt, um ein bisschen mehr zu sehen. Lichtreflexe setzt er hingegen ähnlich gekonnt wie der Altmeister Mathias Schultheiss: gleißend, flackernd, blendend, funkelnd. Am faszinierendsten sieht man das bei Barus Autos.
Schäbige Peugeots, schraddelige Renaults
Er hat eine Vorliebe für sie, aber auch hier sind es nur selten schöne, bemerkenswerte Autos. Er zeichnet schäbige Peugeots wie den 204, schraddelige Renaults wie den R4 oder R5, von Mercedes die 190er und 200er, hässliche Fiats, vorzugsweise die schlimmen Endsiebziger-, Anfang-Achtziger-Schachteln mit dem Charme einer Auto-Dachbox. Der Lichtschein auf der Motorhaube, die Verläufe von Lack und Kanten, Reflexe in der Windschutzscheibe, all das ist nicht nur unglaublich präzise – es erzählt auch unendlich viel über die Tageszeit, das Wetter, die Temperatur. In „Autoroute du soleil“ etwa findet sich ein R4 bei Sonnenaufgang, von hinten auf einer Landstraße fahrend, und wer das sieht, der fühlt sich, als hätte er selbst die Nacht durchmacht und führe jetzt ins tröstlich verheißungsvolle Morgenlicht.
Auch in „Hier und dort“ findet man solche Kunststücke: Eine Panne mit dem Motorroller bei strömendem Regen etwa, so triefnass, dass man einen Lappen unter den Band legen möchte. Hauchzarte Gardinen, oder die Reflexionen der Straßenseite gegenüber in einem Schaufenster. Aber unterm Strich ist der neue Baru vor allem eine gute Gelegenheit, eine Menge alter Barus zu entdecken: Wer’s düster mag, startet mit „Elende Helden“, wer sich zum Popcorn-Kino bekennt, mit dem Gaunerspektakel „Hau die Bässe rein, Bruno!“
Baru, Hier und Dort, Edition 52, 18 Euro
Baru, Wieder unterwegs, Reprodukt, 20 Euro
Baru , Elende Helden, Edition 52, 18 Euro
Baru, Die Sputnik Jahre, Reprodukt, 29 Euro
Baru, Schönes neues Jahr, Edition 52, 15 Euro
Baru, Autoroute du soleil, Carlsen, 29,90 Euro
Baru, Hau die Bässe rein, Bruno, Edition 52, 22 Euro
Dieser Text erschien erstmals am 19. Januar 2019 bei SPIEGEL Online.
Beißend kalt, beängstigend düster: Manu Larcenets Graphic Novel „Brodecks Bericht“ erzählt in finsteren Bildern vom mörderischen Wunsch nach einem Schlussstrich
Jetzt wird’s ungemütlich. Aber so richtig. Beklemmend. Und wenn Sie jetzt vorsichtig fragen, wie ungemütlich genau, weil man ja gern vorher weiß, auf was man sich da einlässt, dann fällt mir als Vergleich nur ein: So wie Kafkas „Schloss“, aber ohne die lustigen Stellen. Es gibt, ehrlich gesagt, auch nur einen einzigen Grund, weshalb man „Brodecks Bericht“ lesen sollte. Weil er so gut ist, dass man Angst kriegt.
Eine Wundertüte namens Larcenet
Der Kopf hinter „Brodecks Bericht“ ist Manu Larcenet, ein erstaunlich wandelbarer Franzose, den die Meisten wohl zuerst in der humoristischen Fantasy-Fundgrube der „Donjon“-Serie entdeckt haben. Bei Carlsen hat er einen ebenfalls satirischen Band zur Serie „Valerian und Veronique“ beigetragen, aber derlei wirkt bei Larcenet eher wie ein entspannendes Luftholen, bevor er mit einem ernsten Werk in die Tiefe taucht. Mit „Blast“ hat er das vier Bände lang getan, eine bizarre Saga um einen stinkenden obdachlosen Fettwanst, widerwärtig und brutal und berührend zugleich. „Brodecks Bericht“, die grafische Umsetzung des gleichnamigen Romans von Philippe Claudel, ist ähnlich gnadenlos, dabei aber deutlich politischer.
Schöne Ordnung: Nach dem Mord kommt der Bericht
Die Geschichte spielt in einem abgelegenen, europäischen Bergdorf, nach einem Krieg – es könnte der erste oder zweite Weltkrieg sein, aber so deutlich wird es nicht. Brodeck kommt in den Dorfgasthof, um Butter zu kaufen – und findet dort die versammelten Männer vor, die gerade „den Anderen“ umgebracht haben, einen Maler, der im Gasthof abgestiegen ist. Sie beauftragen den eingeschüchterten Brodeck, der öfter für die Verwaltung schreibt, auch hierüber einen Bericht zu verfassen. Der Bericht soll alles beschreiben und sie zugleich entlasten. Brodeck gehorcht.
Larcenet schildert Brodecks Recherche in dem verschneiten Ort, in dem es nie richtig hell zu werden scheint, in dem jeder stets alles weiß, was die anderen tun. Larcenet bleibt Schwarz-weiß, mit sehr viel schwarz, was an sich schon eine Kunst ist bei so viel Schnee. Brodeck flüchtet sich in die Einsamkeit des Waldes, die Larcenet mit einer Vielzahl seiner großartigen Tierzeichnungen verstärkt: Wo Vogel und Wiesel ungestört sitzen, sagen sich auch Fuchs und Hase gute Nacht. Aber mindestens so verstörend wie die Abgeschiedenheit, die dauernde Kälte, die deprimierende Armut der kleinen Hütten, in denen allenfalls Kerzen für Licht sorgen, sind die Gesichter des Dorfbewohner.
Alles fressen, nicht fragen
Misstrauisch sind sie, vorwurfsvoll, übellaunig, finster – nur der reiche, Schweine züchtende Bürgermeister strahlt machtgewohnte Jovialität aus, als er Brodeck am Tag nach dem Mord nochmal anhand seiner Tiere erklärt, wie das Dorf tickt: „Sie fressen alles, und sie stellen sich keine Fragen. Sie denken nicht nach. Sie kennen weder Schuld noch Vergangenheit – sie leben einfach. Meinst du nicht, dass sie es richtig machen?“
Diese Vergangenheit ist tatsächlich der Schlüssel zu allem. Das Dorf hat sich im Krieg schuldig gemacht – mit Ausnahme von Brodeck, der sofort in ein Lager kam. Bei seiner Recherche findet er heraus, weshalb: Die Soldaten verlangten als Zeichen der Unterwerfung eine Säuberung von Artfremden. Die Männer liefern daraufhin den Dorftrottel aus und Brodeck, weil er nicht im Dorf geboren ist, sondern als Flüchtlingskind hinkam.
Die ersten Opfer sind Außenseiter
Als sich nach Brodecks Verschleppung Soldaten an seiner Frau vergehen, nutzen auch einige Dorfbewohner die Gelegenheit. Kein Wunder, dass man da gern „weder Schuld noch Vergangenheit“ kennen möchte. Dass man da den fremden Maler als Bedrohung empfindet, von dem man nicht weiß, was er in dem Dorf will, und der die Bewohner porträtiert, als könne er ihnen direkt in die Seele sehen.
Larcenet tut einiges, um die Naziparallelen nicht zu sehr hervorzuheben, er macht die Soldaten zu gesichtslosen Gruselgurken mit Zombiehunden, zu Recht: Das eigentliche Grauen sind die Dorfbewohner. Brodeck ist auch nach Jahrzehnten im Ort nur der „fußballspielende, ministrierende Senegalese“ des CSU-Generalsekretärs Scheuer – eben keiner von „uns“. Höchstens toleriert, nie akzeptiert, stets der erste auf der Abschussliste. Dass er das KZ überlebt hat, macht es noch schlimmer: „Da ich dies schreibe, begreife ich plötzlich, wie gefährlich es ist, Unschuldiger unter Schuldigen zu sein. Im Grunde nicht anders, als der einzige Schuldige unter Unschuldigen zu sein.“
Eine Lösung bietet Claudels Vorlage nicht – wo soll sie auch herkommen? Der Bericht ist nur symbolisch gemeint, der Bürgermeister verbrennt ihn als Sammlung dessen, „was das Dorf vergessen will“, denn „nicht alle sind so wie du, Brodeck.“ Brodeck versteht und flieht. Und wer bereit ist, dieses Unhappy End immerhin für eine Art Schlussstrich zu halten, kann sicher sein: Sobald die nächsten Soldaten kommen, wird das Dorf jemanden anderen zum Ausliefern finden.
Manu Larcenet, Brodecks Bericht, Reprodukt, 39 Euro Manu Larcenet, Blast, Reprodukt, Band 1-4 29-30 Euro Manu Larcenet, Die Rüstung des Jakolass, Carlsen, 12 Euro
Das bringt uns zum Action-Comic BRZRKR. Den habe ich kürzlich fürs Münchner „Comic Café“ in die Finger bekommen, und die haben ihn ausgewählt, weil wiederum Keanu Reeves seine Finger drin hat. Ja, der Keanu Reeves, den man von „Matrix“ und „John Wick“ kennt und, wenn man sehr alt ist, von „Speed“. Reeves, so heißt es, hat sich die Geschichte ausgedacht und mit dem Autor Matt Kindt und dem Zeichner Ron Garney einen Comic draus gemacht. Ob’s stimmt, kann ich nicht sagen, für mich klingt’s eher nach dem Prinzip „Julia Roberts bringt ein Parfüm raus“. Die geht da auch nicht ins Labor und rührt sich munter was zusammen, sondern lässt sich von einer Firma drei Düfte vorschlagen, und einen davon nimmt sie dann eben. Aber viel wichtiger ist ja: Was taugt der Comic?
Hallo, Tony Soprano!
Er beginnt nicht schlecht. Wir erleben den B(e)RZ(e)RK(e)R in einem Einsatz für die USA, bei dem er jede Menge Hiebe einsteckt, aber vor allem nach und nach auf Waffen verzichtet und die Gegner mit der Hand durchbohrt oder zerreißt. Und im Voice Over verrät er einer anderen Person, wohl einer Art Therapeutin, dass es ihm jetzt besser geht. Genau hier könnten einige denken: „Hallo, Tony Soprano“. Und genau hier fängt BRZRKR an, mittelmäßig zu werden.
Sehr schnell bekommt der Prügelknabe eine Vergangenheit: 80.000 Jahre ist er alt. Sein Volk lebte in einem fruchtbaren Tal, umgeben von feindlichen Stämmen, und betrieb Ackerbau und Viehzucht. Jedes Jahr wurde es von Feinden ausgeplündert, versklavt, getötet, aber aus unerfindlichen Gründen (Masochismus? Blödheit?) blieb es trotzdem da. Und betete zu den Göttern, die ihm den kleinen Schlagetot lieferten.
Vaters wandelnder Fleischwolf
Der arbeitete fortan als Vaters wandelnder Fleischwolf. Vater wird reich, weil sie so all die wohlhabenden Feinde umher vernichten. Und obwohl der unermüdliche Dreschflegel sich und seinen Eltern schon nach wenigen Jahren die Sinnfrage stellt, ändert sich nichts. Wir erinnern uns: Der ewig junge „Highlander“ erwarb in den Jahrhunderten seines Lebens immerhin einen Wissensvorsprung, der ihn reich machte – unser Keanu-Lookalike brütet 80.000 Jahre dumpf schlachtend vor sich hin, leidet zwar offenbar darunter, entwickelt aber weder eine routinierte noch entspannte noch zynische noch irgendeine Einstellung. Was für ein SCHWCHKPF.
So weit, so dünn. Etwas ärgerlicher wird die Sache, weil immer wieder Bild-Motive auftauchen, die so vertraut wirken wie das Psychotherapeuten-Element. Frank Millers „Rückkehr des Dunklen Ritters“ wird ebenso zitiert/imitiert wie die Leichenberge aus „300“ oder die OP-Szene aus „Hard Boiled“. Aber das ist natürlich auch Erfahrungssache: Wer’s nicht kennt, dem fällt’s nicht auf. Was bleibt, ist ein handelsüblicher Splatterthriller ohne Thrill, denn dazu hätte man halt ein bisschen auf die Dynamik achten müssen. Wozu Reeves-Kindt-Garney vermutlich sagen: „Sorry, aber noch blutiger kann ich nicht.“