- vor 4 Tagen
Sehnsüchtig, halbtraurig und verträumt: Mariko und Jillian Tamakis sensibles Teenie-Ferienabenteuer „Ein Sommer am See“

Schon Lust auf Sommer? Noch ist's da ein bisschen hin, aber einen Vorgeschmack hätte ich schon: „Ein Sommer am See“. Berührend und bezaubernd. Nicht ganz neu (aber dafür günstig, s.u.!). Und wie so oft findet man sowas, indem man nach der Vergangenheit von Leuten guckt, die was auffallend Gutes gemacht haben, in diesem Fall einmal mehr Mariko und Jillian Tamaki.
Der Sommer scheint durchs Fenster
Es ist Sommer. Rose (zwölf? dreizehn?) fährt mit ihren Eltern ins Ferienhaus am See. Rose sitzt auf dem Rücksitz des Autos, blättert in Comics, sieht außen die ersten vertrauten Gebäude. Man hört die Reifen förmlich über den Kies knirschen, sieht die Dorfkids (winkt, um nicht arrogant zu wirken/wird für arrogant gehalten, weil man winkt). Rose lässt sich beglückt auf ihr vertrautes Ferienbett fallen, der Sommer scheint durchs Fenster. Dann nimmt sie ihr Rad und fährt zu ihrer Freundin Windy, die zwei Häuser weiter ebenfalls Ferien macht – ebenfalls wie immer.

All das ist saugeschickt umgesetzt: abwechslungsreiche Kameraführung, mit vielen glaubwürdigen Details. Das Fahrrad steht im Schuppen mit Vorhängeschloss, Roses Zimmer ist zurückhaltend ferienhausgerecht eingerichtet. Und wie sie aufs Bett plumpst: endlich angekommen. Dazu Rose selbst: harmlos-hübsch, blond, bohnendünn, Windy dagegen etwas jünger, rundlich, dunkle Haare. So viel Idylle, soviel Hoffnungen auf so viel Sommer, dass man beinahe vergisst, dass doch bestimmt irgendwas passieren muss, weil man ja sonst keine Geschichte zu erzählen hätte. Aber was?
Heimlicher Horror
Mariko Tamaki wählt wie schon in Roaming das Unscheinbare: Die Mädchen reden erstmals über Titten, ein wenig ratlos. Sie haben keine Lust mehr auf Zeichentrickfilme, und überhaupt geschehen in ihrem Leben auf einmal seltsame Dinge. Roses Eltern verstehen sich nicht gut. Und in dem Dorfladen, in dem Rose und Windy erstmals heimlich Horrorvideos leihen, reden die Jungs merkwürdige Sache über die Mädchen. Übrigens tatsächlich das perfekte Setting für einen Horrorfilm.

Aber Mariko Tamaki arbeitet viel eleganter, ohne Auflösung: Rose versucht ihre eigenen Gefühle einzusortieren. Warum ist ihr der Typ vom DVD-Verleih so wichtig, warum will sie wissen was mit seiner Freundin ist? Warum ist Mama so eine Spaßbremse? Praktisch nichts wird ausdiskutiert, stattdessen sehen wir eine zunehmend überforderte Rose, die sich wundert, wo die unkomplizierte Vergangenheit hin ist. Was wiederum genau die Frage ist, die man sich als erwachsen(d)er Leser selbst stellt, sehnsüchtig, halb traurig, halb träumerisch.
Chaos hinter der Oberfläche
Sowas funktioniert aber nur, wenn man auch die richtigen Bilder hat, und die zeichnet Jullian Tamaki en masse. Schön eskalierende Szenen wie der Nachmittag am Strand, kleine Einstellungen wie ein nackter Mädchenfuß, der gelangweilt ein Sektglas umschubst, oder auch die verwirrte Rose von oben, wie sie an einem ordentlichen Holzzaun vorbeigeht, hinter dem das White-Trash-Müllchaos lagert. Wir sehen, was hinter der Zaunoberfläche liegt, Rose sieht es nicht, weil sie nicht groß genug ist. Sinnbild? Zufall?

Die Tamakis werden’s bestimmt nicht aufklären, und eben dieses Selbstentdecken, Nachfühlen und -denken macht an ihrem Comic so unglaublich viel Spaß. Den es übrigens für wenig Geld gibt, 9,90 Euro als Taschenbuch, das ist eigentlich schon Mangatarif. Aber wenn Sie vor lauter Blödwinter den Sommer nochmal richtig genießen wollen, nehmen Sie die größere, gebundene Version.
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- 16. März
Müssen trübe Themen auch unattraktiv sein? Drei Comics zeigen, dass es anders geht – trotz Waisenheim, Missbrauch und Teenie-Schwangerschaft

Ein alter Woody-Allen-Witz geht so: Zwei Seniorinnen unterhalten sich im Hotel. Sagt die eine: „Das Essen hier ist einfach katastrophal.“ Und die andere: „Stimmt, und diese winzigen Portionen!“ Ähnlich geht’s mir mit vielen, ich nenne sie mal: Sozialcomics. Erst das große Elend, und dann sieht’s auch noch freudlos aus. Interessanterweise sind mir gerade drei Comics untergekommen, die’s anders machen. Freuen Sie sich nicht zu früh: Elend bleibt Elend. Aber… na, warten Sie‘s ab.
Die nervt, die junge Alte

Nummer Eins ist der Neuzugang „Bauchlandung“. Das Debut der Schweizerin Wanda Dufner behandelt das Thema „Teenagerschwangerschaft“, ist autobiografisch und auf 400 Seiten so unbeschwert wie ein Senkblei. Dufner lässt nichts aus: Überforderung, ahnungsloser Sex mit einem sensationell arschlochmäßigen Freund, permanentes Gejammer und Beklagen, Plot und Protagonistin gehen einem rekordschnell auf den Keks. Selbstmitleid und Selbstvorwürfe, Entscheidungsunfähigkeit und Heulerei über Bevormundung, und all das noch im krakeligen Liv-Strömquist-Stil. Aber!
Dufner kombiniert das mit einer kunterbunten Farborgie. Ein hemmungsloser Griff in den Malkasten, kein Farbtöpfchen bleibt ungenutzt, das ist wie zwei doppelte Espressi direkt aus der Tasse hinein ins Auge. Man bleibt gewissermaßen grellwach, man blättert unentwegt weiter, obwohl die junge Alte ganz schön nervt. Die launigen, quicklebendigen Farben haben mich durch den Band getragen. Gottseidank, weil Dufner nach und nach einen angenehm beißenden Humor entwickelt, ohne ihr Farbdoping wären mir also auch einige prima Lacher entgangen.
Was dennoch nicht heißt, dass „Bauchlandung“ hilfreich wäre: zum Ratgeber taugt der Band kaum. Aber selten war so viel Kummer so belebend.
Grabbelnder Pfarrer

Trübsal Nummer zwei fand ich auf den Spuren des Franzosen Alfred (eigentlich Lionel Papagalli). In „Warum ich Pater Pierre getötet habe“ illustriert er eine autobiographische Erzählung von Olivier Ka. Wie der Titel andeutet, geht’s um Kindesmissbrauch. Nicht die schlimmste Variante, aber trotzdem. Eine einmalige Episode im Jugendcamp, die Ka bleibend beschädigt. Ka schildert sie angemessen naiv, Alfred setzt das Erlebte kindlich, bedrückend in Szene – und kompakt. Ka/Alfred bringen den heiklen Stoff in nur 100 Seiten auf den Punkt. Kürze, Würze, man muss die Leser nicht totlabern. Und doch bleiben Fragen.
Nicht, ob das Ganze der Schwere des Vorgangs angemessen ist: Ka konnte den Grabbelversuch des kirchlichen Familienfreunds zwar ein für alle Mal abwürgen, traumatisiert ist er fraglos dennoch. Was aber verwirrt, ist, dass weder Ka noch Alfred auch nur ein einziges Mal der Gedanke an andere Kinder kommt. Das Feriencamp fand schließlich jahre-, jahrzehntelang statt. Bedeutet: Hunderte möglicherweise weniger starke Opfer. Wie können da zwei mittlerweile gestandene Erwachsene die Sache für erledigt halten, nachdem Ka mal den Pfarrer wegen der eigenen Episode zur Rede gestellt hat?
Olivier Ka (Text), Alfred (Zeichnungen), Martin Budde (Üs.), Warum ich Pater Pierre getötet habe, Carlsen, nur gebraucht erhältlich, z.B. derzeit bei Medimops
Zähe Kleinfighter

Nummer drei ist einer meiner Klassiker, die Manga-Reihe „Sunny“ von Taiyo Matsumoto, in der ich mich gerade durch Band 3-4 gefressen habe. Wieder in Japan, im Waisenhaus der Sternenkinder, deren Leben Matsumoto schlaglichthaft in Episoden schildert. Die Reihe hat einen ganz eigenen Zauber, der auf zwei Zutaten beruht: Das Heim, anständig, sogar liebevoll, aber nicht zersüßt wie die ARD-Sachsenklinik, sondern robust, professionell, wie ich’s aus meinem Zivildienst kenne – man fällt den Kindern nicht dauernd um den Hals und führt nicht ständig bedeutungsvolle Gespräche.
Zutat zwei sind die Kinder selbst: Um Aufmerksamkeit ringend, ruppig und zugleich enorm verletztlich. Sie leiden darunter, dass ihre Eltern weg sind, wären gerne „normal“, misstrauen der Nicht-Heimwelt und sehnen sich doch nach ihr. Und für die Normalität oder auch nur die Illusion davon belügen und betrügen sie häufig andere und sich selbst (womit sie sich nicht anders verhalten als viele Erwachsene angesichts der unschönen Gegenwart).
Matsumoto schildert all das einfalls- und variantenreich, einfühlsam und zugleich sachlich wie eine gute Reportage, was „Sunny“ immer wieder zum verwirrend bittersüßen Erlebnis macht. Das auch daran erinnert, dass diese Kinder nicht aus Zucker sind, sondern recht toughe Kleinfighter. Und ausgedacht.
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- 9. März
Kinder und Social Media, muss man irgendwie nachdenklich-kritisch sehen, ne? Aber muss sich das dann auch so lesen? Bei Luise Mirdita nicht!

Vorbildlich. Man kann es kaum anders nennen, was Luise Mirdita da in „Schattenspiel“ veranstaltet. Weil Mirdita sich ein ernstes Thema vorgenommen hat, und gerade bei denen kann man soooo viel falsch machen. Mirditas Thema: Kinder und Social Media. Was ja per se auch noch irgendwie nach Selbsthilfe-Workshop klingt, nicht wahr? Obendrein hat sich Mirdita in den Kopf gesetzt, das Ganze mit dem Bleistift zu machen (vielleicht ist auch noch etwas Kohle dabei), bunt wird’s also nicht. Oje! Aber: Wunder über Wunder, es klappt. Warum?
Im Chat: Fotos aus der Umkleide

Die Basis ist: die Geschichte. Mirdita wählt die Kinderperspektive. Karlotta ist in der sechsten Klasse und eine der wenigen, die weder ein Smartphone hat noch vermisst. Aber sie kriegt natürlich mit, was läuft. Judy, ihre Freundin von früher, hat jetzt ein Videoblog. Und im Klassenchat postet Max ein Umkleidefoto von Isabelle. Karlotta, die nachts oft von ihrem Super-Alter-Ego Charlotte träumt, knöpft sich Max vor und zerlegt sein Handy. Und in bester Show-don’t-tell-Manier hat Mirdita die Spannungsfelder eröffnet.
Mumm geht online
Denn Judy sieht auf ihrem Videoblog ganz anders aus als früher. Und die Aufmerksamkeit lässt unter den Kindern eine völlig neue Währung entstehen: Wer kennt Judy? Wer trifft Judy? Wer ist mit ihr im Video? Und auch Karlotta profitiert, sogar ohne Handy: dank ihres zivilcouragierten Auftritts wird sie Klassensprecherin – und qualifiziert sich letztlich für ein Treffen mit Judy. Die zwar sagt, dass sie’s nicht an die große Glocke hängen wird, aber dann Fotos und Videos trotzdem online stellt.
Luise kann Regie
Karlotta analysiert das nicht. Aber sie registriert diese neue Welt und bekämpft nachts in ihren Träumen die „Falschen“, die sich verstellen, „nur um dazuzugehören“. Ganz nahe kommt Mirdita hier dem Punkt, an dem’s zu deutlich werden könnte – und geht dann klug nicht noch näher ran. Sie löst den Konflikt auch nicht in Wohlgefallen auf. Ihr ist das Unbehagen wichtiger als wer in welchem Umfang schuld ist. Und dass Karlotta einen eigenen Weg finden muss. Was broschürenhaft klingt, aber eben nicht aussieht: Denn Luise Mirdita kann Regie.

Dialog-Szenen im Klassenzimmer oder am Frühstückstisch hält sie knapp und bebildert sie abwechslungsreich: Totale, Close-up, Detail, Blick von oben, schräg von unten, Schuss, Gegenschuss. Wie sieht man Karlotta – und was sieht wiederum sie? Abwechslungsreiche Panelgröße, das Große klein, das Kleine groß, so hält man Leser wach. Und in Karlottas Träumen dreht Mirdita so richtig auf. Gigantische Alptraumstädte, surreale Konstruktionen, Superheldenflüge, Actionszenen, Fritz-Lang-Finsternis – was war das noch gleich mit Social-Media-Workshop?