Ist Donald Trump mit Satire beizukommen? Zwei Comic-Bände nehmen den Kampf auf - das Resultat ist zwar unterhaltsam, doch leider auch ernüchternd
Gern wird ja darüber diskutiert, was Satire darf. Wesentlich sinnvoller könnte jedoch die Antwort auf die Frage sein, was Satire überhaupt kann, also: bewirken kann, und ob angesichts dessen die Diskussion über ihre Befugnisse überhaupt den Aufwand wert sind. Zum Beispiel: Trump.
Zwei Beispiele sind jetzt im Comic-Bereich auf dem Markt, beide auf ihre Weise renommiert, sie geben unterschiedliche Antworten, aber richtig Zuversicht können sie alle beide nicht verbreiten, leider.
Das erste Beispiel ist eine schöne Gelegenheit wieder mal bei einem alten Bekannten vorbeizugucken: MAD hat ein Trump-Special herausgegeben, inklusive Minicartoons am Seitenrand, „nur noch“-Preis und Faltblatt ganz hinten. Trump ist eine umfangreiche Aufgabe, und gerade für MAD eine harte Nuss.
MAD-Leser sind keine News-Junkies
MAD hat ein junges Publikum, die Standardzielscheiben sind neben Popstars und Konsumwelt vor allem Eltern und Lehrer, Politiker sind es allenfalls als Eltern-Lehrer-Verlängerung. Helmut Kohl etwa war in diesem Raster der alte Doofe, Strauß der alte Nazi und Schmidt der alte Spießer.
Da liegt denn auch die Haupthürde für MAD: Mehr aus Trump zu machen als 50 Seiten Donald-ist-doof – für Leser, bei denen man ein breites Wissen aus dem US-Politikbetrieb nicht voraussetzen kann. Das gelingt gelegentlich gut, wie auf drei Seiten Bibelzitate vs. Trumpzitate: Da entlarvt ein ziemlich anständiges altes Buch einen abgrundtief unanständigen Menschen. Oder wie Trump sämtliche vier Präsidentenköpfe des Mount Rushmore gegen vier Versionen seinen eigenen austauscht.
Peinlicher Rundumschlag
Meist geht’s allerdings in die Hose: Trump steht zwar als Rüpel da, der jedoch – was besonders kontraproduktiv ist – gerade dadurch Erfolg hat. Besonders ärgerlich: ein deutscher Beitrag, bei dem Medien, Trump, AfD, CSU und SPD letztlich alle gleich unzumutbar wirken. Genau dieser Anstrich der Normalität (und damit seriöser Wählbarkeit) würde Trump, AfD & Co. so passen.
Umgekehrt fehlen viele ergiebige Ansatzpunkte: Die kurzsichtige Gefälligkeitspolitik. Die rüssellangen Krawatten. Die Umweltpolitik, die zu Industrieprodukten führt, die international noch weniger gefragt sind. Die Idee, reaktionäre Trump-Wähler mit freiwerdenden Immigranten-Jobs zu beglücken: als Bulettenbrater (ächz), Erntehelfer (stöhn) und Tellerwäscher (kotz). Chance verpasst, könnte man sagen – wenn sicher wäre, ob es die Chance je gab. Denn das passiert auch den Polit-Profis.
Eine Präsident gewordene Dreckschleuder
Der zweite Satire-Band vom Splitter-Verlag, er heißt „Trump!“ Er beinhaltet sämtliche Strips, die der vielfach preisgekrönte Cartoonist Garry Trudeau in seiner Serie „Doonesbury“ über Donald Trump gezeichnet hat. Und das sind bestürzend viele.
„Doonesbury“ erscheint seit 1970 täglich in zahlreichen US-Tageszeitungen, auch in der Washington Post. Vier Panels, als fortlaufende Erzählung, mit einer aberwitzigen Vielzahl unterschiedlicher Charaktere. Das erste Mal taucht Trump im Strip des Pulitzer-Preisträgers 1987 auf. Und tatsächlich ist schon damals der komplette Irrsinn dieser Präsident gewordenen Dreckschleuder vorhanden.
Skandale sind sein Standard
Es beginnt mit Trumps Manie, Reichtum vorzuzeigen, was daran liegt, dass er „gut“ und „teuer“ gleichsetzt. Schon 1988 lässt Trump Wohnungen zwangsräumen, bedient sich schmierigster Charaktere, verachtet Menschen ohne Geld und Macht. Der Band lässt 30 Jahre Trump im Zeitraffer aufblitzen, seine Pleiten, seine vorgebliche Universität, seine schaufensterpuppenartigen Vorzeigefrauen vom Typ „vergoldeter Wasserhahn mit Brüsten“. Wer Doonesbury verfolgt hat, kann von dem Wahlkampfskandal unter vielen („Grab them by the pussy“) nicht überrascht gewesen sein, es ist alles da, wirklich alles.
Trudeau hat sein Bestes getan um Trump als das zu präsentieren, was er ist, inklusive des bizarren Konstrukts, mit dem er vollen Haarwuchs nachzuweisen versucht, weil ihm volles Haar wichtiger ist als die Fähigkeit zu einer Gesundheitsreform. Trudeau hat es versucht, indem er Trump zitierte und dabei wenig bis nicht übertrieb. Trumps winziger Wortschatz, die Wiederholungen von „sehr“, „großartig“, „unglaublich“, man mag es einfach nicht fassen, wie lange ausgerechnet dieser Körperklops und Mentalfladen schon Gegenspieler und ganz normale Menschen diskreditiert, indem er behauptet, sie würden schwitzen, stinken, wären krank oder zu dick.
Die Tweets enthüllen nichts
Geholfen hat es nicht. Cross-Cult wird Ende August sein Glück mit gesammelten Original-Tweets versuchen, tapfer angereichert um Cartoons, aber es gibt einfach nichts zu entdecken. Dieser Mann, der sich bei nüchterner Betrachtung zu nichts weiter eignet als zum Geteert-und-gefedert-werden, ist heute US-Präsident. Und er ist noch nicht mal das Hauptproblem: In den USA (und offenbar auch in Polen, Ungarn oder der Türkei) gibt es inzwischen eine mehrheitsfähige Wählerschaft für rücksichtsloses Gesindel.
Ob Satire dagegen die wirksamste Waffe ist, muss man angesichts der Bestandsaufnahme wohl anzweifeln. In letzter Zeit ertappe ich mich öfter beim Wunsch nach schlichten Signalen, sagen wir: Die Waltons haben Donald Trump zu Gast. Bis es Oma reicht: „Mr. Trump, bitte essen Sie jetzt auf und verlassen Sie unser Haus.“ Wer sich bis dahin über das Ausmaß der Katastrophe informieren möchte: beide Bände zeigen auf ihre Weise ein durchaus zutreffendes Bild davon.
MAD Trump Special, Panini Verlag, nur noch 3,99 Euro Garry Trudeau, Trump!, Splitter, 18,80 Euro Shannon Wheeler, Tump twittert, Cross-Cult, 15 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.
Neu übersetzt: Reprodukt legt Robert Crumbs „Fritz the Cat“ wieder auf. Ein Comeback des Katers, der Miezen schon 1965 behandelte wie Donald Trump heute
Was für eine willkommene Neuauflage: Reprodukt hat soeben „Fritz The Cat“ neu herausgebracht, vollständiger than ever, und im großformatigen Hardcover. Was eine sehr schöne Erleichterung darstellt: Die meines Wissens letzte, von der FAZ herausgegebene Sammlung deutscher Sprache ist nicht nur längst vergriffen, sondern im Taschenbuchformat erschienen: eine Menge Kleingags sind selbst mit Lesebrille nur noch winziges Gefutzel. Die Frage ist allerdings, ob es sich heute noch lohnt, über 50 Jahre nach der ersten Veröffentlichung. Die Antwort: Mehr denn je. Ende der 60er war Fritz ein Skandal. Heute ist er der Normalfall.
Klarer Blick, schmutzige Fantasie
Fritz The Cat ist das Geschöpf des Comiczeichners Robert Crumb, Jahrgang 1943, ein unscheinbarer Typ mit Brille, einem bestechend klaren Blick und erfrischend schmutzigen Fantasien. Indem er beides gekonnt vermischte, zeichnete sich Crumb seit den 60ern vom Insidertipp zum Weltruhm. Von all seinen Figuren ist dabei „Fritz The Cat“ zweifellos die vermarktbarste (und darum auch 1972 verfilmte) – nicht zuletzt, weil Fritz sich vorrangig auf Sex konzentriert, von Anfang an. Schon in seiner ersten Geschichte, in der er seine Mutter und seine kleine Schwester auf dem Land besucht.
Seinen Job hat er da hingeschmissen, es wird klar, dass er nur heimkommt, weil Mutti ihm gerührt was zu essen macht, kostenlos. Und als er sieht, dass seine Schwester ansehnlich gewachsen ist, wird klar, dass er ihr erst den großen Macker aus der Stadt vorspielen und sie dann vögeln wird. Nichtstun, schmarotzen, ficken – das ist das Prinzip Fritz: Aber diese erste Geschichte ist noch etwas zu bitter, weil die Mutter so nett ist und die eigene kleine Schwester –, also, das ist schon reichlich skrupellos. Richtig explosiv wird die Mischung erst, als Crumb diesen Fritz auf die linksliberale Szene einer fiktiven Großstadt der 60er loslässt.
Sagenhafte Phrasenschleuder
Fritz studiert jetzt, aber tatsächlich interessiert ihn nur, wo man Drogen herbekommt, wer ihm das nächste Bier bezahlt und mit wem er als nächstes poppt. Zu diesem Zweck hat sich die Katze zu einer sensationellen Phrasenschleuder gemausert, die alles von sich gibt, was man sagen muss, um in der Szene Erfolg zu haben: Mal der Revoluzzer, mal der Künstler/Dichter/Schriftsteller, mal der einfühlsame Frauenversteher. Was auch deshalb so lustig ist, weil seine Umgebung dasselbe macht.
Fritz beschwallt Schwallbacken, befaselt Faselfrauen, die ganze Szenerie ist so durchschaubar, dass man sich andauernd fragt, warum sich die Beteiligten nicht alle gegenseitig durchschauen? Schließlich ist Fritz alles andere als einfallsreich: Als einmal vier Miezen nacheinander in seiner Bude auftauchen, erzählt er ihnen ungerührt allen denselben Schmarrn.
Man muss jedoch sagen: Fritz ist nicht nur Schmarotzer, er verbindet das Schnorren mit ausufernder Selbstdarstellung. Er will bewundert werden und die geilste Zeit haben. Tatsächlich erinnert Fritz daher auch gelegentlich an niemand geringeren als den frühen Andreas Baader, der die Studentenbewegung als Star-Vehikel kaperte.
Lebensziel: Auto kaufen, Gas geben
In einer Szene etwa entfesselt Fritz aus dem Moment heraus einen Schwarzen-Aufstand, grinsend. Die Schwarzen interessieren ihn keinen Pfifferling, was ihm stattdessen wichtig ist, erzählt er kurz darauf seinem Kumpel: „Ich will endlich wieder leben und lieben, alter Junge. Ich bin grad dabei, mir ein Auto zu besorgen… dann tret ich das Gaspedal voll durch und verschwinde in ’ner Riesenstaubwolke.“
Während Fritz’ Freunde wissen, dass man notfalls eben doch ab und zu lernen oder arbeiten muss, glaubt Fritz hingebungsvoll seinen eigenen Unfug. Er glaubt, dass „Nichtstun“ und „Freiheit“ dasselbe sind. Dass ein Künstler nicht jemand ist, der Kunst fabriziert, sondern jemand, der für einen Künstler gehalten wird. Das Amüsante war damals, zu Fritz' Entstehungszeit, dass der Leser zwar wusste, dass es diese Überschneidungen tatsächlich gibt, aber dass sich ein normaler Mensch ihrer nie so rücksichtslos und dummdreist bedienen würde wie Fritz. Heute ist das anders. Das Fritztum hat sich ausgebreitet.
Das Fritztum hat sich ausgebreitet
Tatsächlich ist der Alltag längst voll mit solchen Hülsen-Früchtchen. Youtube beheimatet zu Dutzenden und Hunderten Blogger, die zu den Nachrichten aus Zeitungen und Fernsehen ihren Senf geben und sich deshalb für Journalisten halten – und für Journalisten gehalten werden. Wir haben Castingprodukte, die sich für Musiker halten – und als solche gelten. Online-Stars, die ihr Leben längst zur Dauerwerbesendung umgestaltet haben – und Hunderttausende Zuschauer, die glauben wollen, sie bekämen dort Tipps von Freunden.
Und man kann darüber streiten, was für die jeweilige Umgebung gefährlicher ist: Fritz, der seine Uni-Notizen verbrennt und dabei das komplette Mietshaus abfackelt, oder seine real existierenden Epigonen, die in einer Flut der Selbstdarstellungen den Schwachsinn so gründlich normalisieren, bis so etwas wie Donald Trump Präsident werden kann.
Die Pose ist alles, der Inhalt ist nichts. Heute, nach über 50 Jahren, hat „Fritz the Cat“, das Original, tatsächlich eher entspannende Wirkung: Hier ist wenigstens nach dem Sex kurz Ruhe.
Robert Crumb, Fritz the Cat, Reprodukt, 29 Euro
Dieser Text erschien zuerst bei SPIEGEL Online.
Doppelschlag von Riad Sattouf: „Esthers Tagebücher“ und „Der Araber von morgen“ zeigen die Welt aus der Kinderperspektive: rührend naiv, witzig-pikant, erschreckend erbarmungslos
Manchmal entdeckt man Sachen so spät, das es einem beinahe schon peinlich ist. Die tüchtige Kapelle Drahdiwaberl zum Beispiel. Oder, auch reichlich spät, das Videospiel „Assassin’s Creed“. Oder jetzt, Schande über Schande, Riad Sattouf. Ich hab den Mann einfach unterschätzt. Und zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass sein Start nicht ganz überzeugend war.
Irrtümlich in die "Multikulti"-Schublade
2010 erschien bei Reprodukt ein Bändchen, das „Meine Beschneidung“ hieß. Es ging um einen Jungen, der relativ spät beschnitten wird, sich von seinem Vater einen gigantischen Spielzeugroboter als Trost wünscht und ihn nicht kriegt. Ganz nett, ganz unterhaltsam, aber nicht der Brüller, also hab ich Sattouf wohlwollend mehr oder weniger unter Multikulti abgelegt und nicht mehr verfolgt. Erstens: schön blöd. Zweitens: doppelt falsch, wie sich jetzt herausstellt. Denn bei Reprodukt erscheinen jetzt von ihm „Esthers Tagebücher“.
Die sind auf den ersten Blick schon mal angenehm konsumierbar: 52 kurze, jeweils eine Seite lange Geschichten aus dem Leben einer Zehnjährigen, zuerst veröffentlicht im französischen Magazin „L’Obs“. Esther lebt mit ihrem tollen Vater, ihrer lieben Mutter und ihrem natürlich doofen großen Bruder in Paris. Das ist schon nach wenigen Panels so charmant und drollig wie es eben manchmal so ist, wenn man am Pausenhof einer Grundschule vorbeigeht. Sattoufs Geschichten werden daher auch gerne mal mit Goscinnys „Der kleine Nick“ verglichen. Aber das ist zu wenig, und das nicht nur weil der kleine Nick nie bei Youporn war.
Der kleine Nick war nie bei Youporn
Der „Kleine Nick“ ist ja mehr eine nostalgische Erinnerung an die Kindheit mit dem guten Gefühl, dass Nick einmal so sein wird wie der Leser, und sein Sohn wird dann so sein wie Nick jetzt ist und immer so fort. Bei Esther ist das anders. Esther spielt mit ihrer Freundin ein Katzenvideospiel, aber schnell zeigt sich, dass man für diese Katze Geld ausgeben muss. Und dass die Freundin anfängt, die Bildschirmkatze zu prügeln, weil die Katze nicht frisst.
Esther weiß, wie wichtig es ist schön zu sein: „Wenn man blond und geschmeidig ist, bringt man es mal zu was“. Oder wie wichtig es für die Jungs ist, dass man ausländische Wurzeln hat, weil man sein Selbstbewusstsein nicht mehr nur aus den Klamotten oder der Frisur oder den richtigen Turnschuhen speist, sondern ganz selbstverständlich aus einem Nationalismus.
Esther will: kein Opfer sein
Nein, bei Esther ist stets klar, dass ihre Welt eine ganz andere ist als unsere, und dass auch ihre Zukunft eine ganz andere sein wird. Nick stolperte naiv durchs Leben, Esther und ihre Freunde registrieren aber die Gesetze von Erfolg und Anerkennung, sie achten aufmerksam darauf, was einen zum Opfer macht. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Unschuld und Unbehagen, ein so lecker wasabihaft beißender Witz, dass ich sofort gesucht habe, ob mir seit 2010 mehr von Sattouf entgangen ist. Und dabei bin ich auf den „Araber von morgen“ gestoßen. Zwei Bände gibt es davon bereits, erschienen im Knaus Verlag, im Mai erscheint der dritte. Wenn Esther ein Traum in zartbitter ist, dann hat „Der Araber von morgen“ einen Kakaogehalt irgendwo zwischen 85 und 98 Prozent.
Sattouf erzählt hier seine eigene Jugend als Kind einer Französin und eines Syrers, der in Frankreich einen Doktortitel erworben hat. Der nimmt anschließend seine Familie mit nach Libyen und Syrien, um dort den Arabern statt Frömmigkeit Bildung einzutrichtern. Hier, im Graphic-Novel-Format, haben neben der Hauptfigur Riad auch andere Charaktere Platz zur Entfaltung, vor allem natürlich Sattoufs Vater.
Vati vereint Fortschritts-Zuversicht und Aberglaube
Der kann sympathisch träge vor dem Fernseher lümmeln und pubertär-prahlerisch-primitiv-paschahaft davon träumen, als Wissenschaftler sein Land in die Moderne zu führen. Parallel dazu glaubt er aber, dass auf Friedhöfen krebserregende Gase wabern und dass – wenn man schon an etwas glauben will – die Sunniten recht haben. Womit Sattouf das arabische Spannungsfeld zwischen Reform und Reaktion elegant einfängt.
Für eine Dozentenstelle zieht die Familie dann in seine syrische Heimat, der kleine Riad geht auf die marode Dorfschule, wo man Stockschläge auf die Finger bekommt und im Wesentlichen lernt, Koransuren aufzusagen und die Nationalhymne zu singen. Die Familienmitglieder bekämpfen sich inzwischen untereinander, die einen ruinieren den anderen die Ernte, Korruption, Autoritätshörigkeit, Hass und Gewalt sind allgegenwärtig und das Unbehagen, das man von „Esther“ kennt, kriegt man hier in noch mehr Spielarten serviert: skurril, entsetzlich, unerträglich.
Unverheiratet schwanger: Familie tötet Tante
Was nicht falsch verstanden werden soll: Sattouf prangert nicht an, er schildert derlei nur, sogar ziemlich ausgewogen. Bei den französischen Großeltern gibt es Nachbarn, die gleichmütig einen Wurf Kätzchen auf der Mülltonne totschlagen. Aber derlei verblasst eben, wenn der kleine Riad zurück im syrischen Dorf erfährt, dass die Verwandten seine Tante umgebracht haben, weil sie unverheiratet schwanger war.
Kann man aus so was einen unterhaltsamen Comic machen? Absolut – dank der Kinderperspektive von Esther und Riad. Weil hier der größte Unsinn und der mörderischste Ernst und die faszinierendsten Nebensächlichkeiten unvermittelt und nahezu gleichgewichtig nebeneinander auftauchen können. Esther grübelt über ein Smartphone genauso wie über das neugelernte Wort „Schwuchtel“. Riad betrachtet die Löcher im Boden der städtischen Busse so neugierig wie die Toten, die zur Abschreckung mitten in der Stadt am Galgen hängen.
Unterstützt wird das von einem sympathisch-cartoonigen Zeichenstil, der alle Beobachtungen und Reaktionen vereinfacht und so zuspitzt, wie sie Kinder oft wahrnehmen – entweder supergut oder superschlecht oder superegal. Problematisch wird das erst, wenn die Kinder zu alt werden: Der kleine Riad bleibt ja nicht ewig in der Grundschule, er ist heute ja knapp 40. Und Esther, die es laut Sattouf tatsächlich gibt, will er begleiten, bis sie 18 ist. Aber bis dahin haben wir hoffentlich alle noch eine Menge zu lesen.
Riad Sattouf, Esthers Tagebücher, Reprodukt, 20 Euro
Riad Sattouf, Der Araber von morgen, Albrecht Knaus Verlag, Band 1-3, je 19,99 Euro
Riad Sattouf, Meine Beschneidung, Reprodukt, 14 Euro
Dieser Text erschien erstmals bei SPIEGEL Online.