Skurril, zart spöttisch und erfreulich frühlingshaft: Chloé Cruchaudets „Céleste“ schildert, wie der Schriftsteller Marcel Proust seine unentbehrliche Helferin fand
Comics lesen ist eine Sache, Comics finden eine andere: Hin und wieder tauchen welche dort auf, wo man selten bis nicht stöbert, nämlich bei einem Eigentlich-eher-Buch-Verlag. Wo man sie verpasst, wenn man nicht aufpasst. Was manchmal schade wäre, wie in diesem Fall beim Inselverlag und Chloé Cruchaudets so ansehnlichem wie unterhaltsamem Band „Céleste“.
Der komplizierte Asthmatiker
Es geht um den Schriftsteller Marcel Proust, der 1913 eine junge Frau ohne jede Berufserfahrung einstellt, die sich zu seiner unentbehrlichen rechten Hand entwickeln wird. Proust-Kenner wissen davon wahrscheinlich schon, aber mir Nichtkenner ist die Geschichte neu. Was ich vorfinde, ist ein pingeliges, kränkliches, mittelaltes Männlein, das aufschreit, wenn jemand in seiner luxuriösen Wohnhöhle falsch oder überhaupt Staub wischt. Das Männlein ist zugleich überzeugt von der eigenen Genialität, aber es kann sich das auch leisten, weil: Es hat erstens reich geerbt (und wird zweitens bald tatsächlich von der Verlagswelt als Genie gefeiert).
Pflegeleichter wird der Asthmatiker dadurch allerdings nicht.
Céleste, ein Landei, das in Paris bereits mit dem Anheizen eines Ofens überfordert ist, kriegt den Job, weil ihr Mann Prousts bevorzugter Taxi-Chauffeur ist. Und sie behauptet sich in dieser Stellung, weil sie eine rasche Auffassungsgabe besitzt, Menschen beobachtet, schnell und praktisch denkt und sich nichts gefallen lässt. Das ist ziemlich wichtig, weil Proust offenbar gerade Célestes Unabhängigkeit und ihre leicht mütterliche Robustheit anziehend findet. Aus Arbeitgebersicht, wohlgemerkt, beziehungsmäßig tendiert Proust zu Männern.
Giganto-Paris
Diese schon recht nette Geschichte wird durch Chloé Cruchaudet zu einer besonderen. Zunächst dank ihrer erfrischenden Farben: aquarellhaft transparent, mit viel Weiß, so dass die finstere französische Hauptstadt mit ihren dunklen Gassen und der Proustschen Altbauwohnung geradezu frühlingshaft aussieht. Dazu kommt Cruchaudets geschickte Bildregie: Die Häuser des Paris der „guten alten Zeit“ zeigt sie oft hochkant, manchmal zeichnet Cruchaudet extra vom Bodenniveau nach oben, die Jugendstilfassaden der Großstadt wirken dann nochmal überwältigender und newyorkhafter, was ganz gut zum Blickwinkel eines Mädchens vom Lande passen könnte.
Prouststilzchen
Manchmal legt sie auch Prousts Texte über die Bilder, immer wieder inszeniert sie dabei die schmale Céleste in der ausladenden Metropole. Dazwischen streut Cruchaudet mal skurrile Dialoge, mal schenkt sie Proust einen schönen Monolog als schimpfendes Rumpelstilzchen, manchmal lässt sie einfach nur stumm die Bilder sprechen. Und immer wieder verdichtet sie gekonnt: Weil Proust Célestes Mann an „ein Luxusding unter Glas“ erinnert, setzt sie den Autor auf die Spitze einer Insel, die sich aus seiner verschachtelten Wohnung hochtürmt, und ganz oben ist Proust, im Bett, unter einem Glassturz. Cruchaudet beim Spielen mit ihren Zutaten zuzusehen, ist eine helle Freude. Und das Schöne ist: Der Spaß ist nach den 120 Seiten nicht zu Ende, in Frankreich ist die Fortsetzung bereits erschienen.
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Der harte Kampf gegen das Vergessen: In und für „Emmie Arbel“ zeichnet sich Barbara Yelin förmlich die Seele aus dem Leib
Holocaustgeschichten. Muss denn noch eine? Schreien viele: Ja! Dringend! Heute mehr denn je. Gähnen inzwischen aber auch viele: Mjaaaa. Ist aber doch immer dasselbe. Das ist so ziemlich das Problem, mit dem auch Barbara Yelins Band „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ zu kämpfen hat. Das Erstaunliche ist, wie gut sich Yelins Comic gegen diese Ermüdung zu behaupten vermag.
Tröstliche Computerspiele
Das liegt sicher auch an der Protagonistin, die Yelin im Zuge des Projekts „Aber ich lebe“ kennenlernte. Emmie Arbel ist eine toughe Kettenraucherin (was vermutlich im Comic angenehmer ist als wenn man neben ihr sitzt). Ihre Erinnerung spult nicht willig ab, sondern streikt immer wieder oder wird auch ruhiggestellt. Arbel flieht oft vor der Schlaflosigkeit an den Computer, wo sie mit der „Solitär“-Patience ihren Gedanken ausweicht. Aber es liegt vor allem auch daran, wie viel Leben Yelin den düsteren Inhalten abgewinnt.
Gefühlt mindestens die Hälfte des Buches lässt Yelin ihre Emmie in grünen Gärten, auf Terrassen nachdenklich in einem friedlichen Sonnenschein erzählen (und quarzen). Ihre Tochter kommt zu Besuch, die Enkel, das hat auch oft etwas ungemein Tröstliches, Belebendes, Erfrischendes. Da ist ein Mensch, den die nazifizierten Deutschen so gerne umgebracht hätten, und der lebt munter und durchaus auch ein wenig trotzig weiter vor sich hin: auf jeden Fall eine gute Nachricht.
Missbrauch bis zum Totenbett
Arbel, die in Holland aufwächst, erlebte im KZ Bergen-Belsen den Tod ihrer Mutter, sie kam nach dem Krieg (wie viele jüdische Kinder) nach Schweden, dann von dort zurück nach Holland, wo sie ihre beiden Brüder wieder trifft und mit ihnen zu einer Pflegefamilie kommt. Dort missbraucht sie der Pflegevater. 1949 siedelt die Familie um nach Israel, in einen Kibbuz, doch viel glücklicher wird das Familienleben dort nicht. Emmie entwickelt allerdings einen extrem starken, eigenen Willen. Sie war im KZ, ihr Pflegevater ist ein Arschloch, vor was soll man da noch Angst haben?
Vor Autoritäten jedenfalls nicht. Sie schwänzt den Schulunterricht, sie kennt sich mit den ersten Computern gut aus, sie geht zum Militär. Sie hat zwei Töchter, eine stirbt. Was ist das jetzt für ein Leben?
Schön ist, dass Yelin sich beim Bedauern extrem zurückhält, sie überlässt es ganz den Lesern: Yelin selbst konzentriert sich mehr auf die Mechanismen des Überlebens, Emmies erstaunliches In-sich-Ruhen, das trotzdem nicht abgestumpft oder gar gefühlskalt wirkt, sondern stark, beherrscht und – wohl auch dank des Überstehens der Schoah – unbeirrbar zum Leben entschlossen.
Hellwache Beobachterin
Erfreulich ist auch, dass Yelin sich von den Erwartbarkeiten von Holocaustgeschichten nicht einschläfern lässt. Sie bleibt wach für ungewöhnliche Facetten: Etwa das Schweigen der Überlebenden untereinander, weil man stark sein will, weil sich das stolze junge Land Israel doch gerade so erfreulich im Unabhängigkeitskrieg bewährt hat. Und aus Scham, weil offenbar viele Juden aus Israel den Nazi-Opfern unterstellten, sie hätten sich gegen die Vernichtung zu wenig oder falsch gewehrt. So verschweigen die Juden aus den Lagern ihr Leid letztlich aus ähnlichen Gründen wie die Deutschen: Da will ja auch niemand das schöne Wirtschaftswunder mit Nazigeschichten zerinnern.
All das macht „Emmie Arbel“ nicht nur lesenswert, sondern auch sehr genießbar – wenn man den Band erst mal in die Hand genommen hat. Denn obwohl sich Barbara Yelin förmlich die Seele aus dem Leib zeichnet, kann sie natürlich keine wirklich neuen Zugänge zum Thema eröffnen. Dabei wären die gerade jetzt mit jedem Tag dringend nötiger.
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Noch 23 Tage und keine Geschenk-Ideen? Nicht weinen: Hier kommt fünfmal Abhilfe, mal skurril, mal kostenlos
Was denn noch alles?!? Nach der Klima-, Ukraine-, Nahost- und der Ergebniskrise der Nationalmannschaft ist nahezu unbemerkt eine weitere Krise ins Land gesickert: die Weihnachtskrise – und sie trifft Millionen! Laut einer wilden Vermutung wissen neun von zehn Deutschen nicht, was sie Millionen anderen Deutschen schenken sollen. Am härtesten trifft es wie immer: die Comic-Fans. Der Staat? Tut nichts. Olaf Scholz, glühender Comicfreund ohne nähere Angaben, sitzt die Probleme aus. Nur auf einem kleinen, fast völlig unbekannten Blog ist Rat zu finden. Nämlich: hier. Und Sie sind auch schon da? Wunderbar!
Tipp 1: Das Gartenparadies
Grandios, aber auch denkbar merkwürdig: „Kohlhoffs Garten“ gibt sich als eine Art Grußpostkarten-Katalog für ein bizarres Freizeitparadies. Also posieren lauter glückliche Leute in 50er-Jahre-Klamotten vor Attraktionen wie dem „Katastrophenwunderland“, wo man auf der sinkenden Titanic oder dem bald explodierenden Luftschiff „Hindenburg“ schaukeln kann. Man kann Riesenschweine reiten („Ein Taxi aus Fleisch!“), der Frühstückssaal ist so voll mit Schmetterlingen, dass man besser nicht den Mund zum Beißen öffnet, und nur anhand der wegfliegenden Hüte wird beim Blick auf die Schiffsschaukel klar, dass Drinsitzen eigentlich nicht so recht angenehm sein kann. Der Werbetext daneben jubelt dazu: „The feeling of dying is a wonderful refreshment!“ Olrik Kohlhoffs ausgefeilte Kohlezeichnungen saugen den Betrachter in eine entsetzliche Amüsierwelt, für deren Zweischneidigkeit es aktuell kaum Vergleiche gibt: Der Baron des Bizarren, Eugen Egner, fällt ein, oder Loriots gelegentlich schwarzhumorige Cartoons. Und in dieser Reihe großer Namen fällt Kohlhoff nicht ab. Der Extra-Vorteil: Der Band ist mehr Cartoon als Comic, auch gut informierten Comicfans könnte dieses Kleinod daher bislang durch die Finger gerutscht sein.
Tipp 2: Neu aufgerollt
In Berlin sitzt die kleine Firma round not square, die jetzt schon seit längerem eine Einzigartigkeit produziert: Rollcomics. Dahinter verbirgt sich eine simple Rolle Papier, etwa zewagroß, sehr lang, je nach Comic ein Dutzend Meter und mehr. Die Rolle liest sich überraschend komfortabel: Man öffnet den steifen Pappumschlag, nimmt ihn in die linke Hand, die übrige Rolle nimmt man in die rechte Hand, dann zieht man den Comic soweit auf, wie man mag. Links wird aufgerollt, rechts wird abgerollt, das kann man sitzend auf dem Sofa machen, aber auch auf einem Tisch. Der Vorteil ist das Format: Der Zeichner kann so breite Bilder zeichnen, wie er will. Stellen Sie sich einen Film vor, in dem die Kamera nach rechts schwenkt und einfach nicht mehr aufhört – das geht hier auch im Comic. Paul Rietzl hat das mal für eine Weltall-Story genutzt (die noch bestellbar ist), Alex Chauvel erzählt jetzt die Fabel von „Flüssiger Bär“, der das grüne Leben in die Welt bringt. Recht munter geschildert, aber noch spannender ist freilich, auf welche rechtsdrehenden Ideen der neue Künstler kommt. Unter den Höhenpunkten: Wie Chauvel spielerisch den Teppich von Bayeux aufgreift und sein optisch schlüssiges Konzept unterschiedlicher Lebensverläufe, die sich bei jeder Entscheidung neu abspalten und ineinander verwinden. Eine spielerische Erzählung, eine erzählerische Spielerei, etwas, was kaum ein Comicfan kennt und jeder gern in die Hand nimmt, wenn es erst mal ausgepackt ist. Auch, weil nicht nur der Zeichner autonom über die Bildbreite entscheidet – sondern seine Leserschaft genauso.
Tipp 3: Reisezeit für eine Zeitreise
Das hier ist was für den sehr kleinen Geldbeutel – aber keineswegs gering zu schätzen. Verschenken Sie Zeit, gemeinsam verbrachte Zeit, solange es noch ein Deutschlandticket gibt, und entführen Sie die Beschenkten nach Dortmund. Das geht nicht von überall, aber ab Osnabrück im Norden, Bielefeld im Osten, Köln im Süden sollte das in anderthalb Stunden klappen. Und dann purzeln Sie praktisch direkt vom Bahnsteig in den schauraum comic + cartoon. Wo sich die Ausstellung „Staying West“ angucken lässt, die sich dem Westerncomic widmet, die hervorragend ist und trotzdem nichts kostet. Kuratiert von Alexander Braun, weshalb Sie nicht nur irgendwelche Comics an der Wand finden, sondern auch Zusammenhänge. Da erfährt man dann, warum die Argentinier so gute Comics haben, warum die deutschen Comics eher schaurig-schön waren, wie man Traditionsmarken wie „Lucky Luke“ retten kann, und, und, und. Den Katalog zur Ausstellung gibt’s vor Ort obendrein zum Sparpreis. Einziger Nachteil: Das geht an Weihnachten erst ab dem zweiten Feiertag.
Tipp 4: Weniger kann mehr sein
Weg vom immer-mehr: Auch Tipp vier ist recht kostengünstig. Wenn Sie richtig wohnen, sogar gratis, aber auch wer außerhalb von Berlin lebt, zahlt den Verlegern der Moga Mobo Comics nur die Portokosten für ihre eigenwilligen, aber auch einladenden Comic-Projekte. Tatsächlich ist deren Homepage eine erstaunliche, schwer vorhersagbare Wundertüte. Für ihre Umsetzung von „100 Klassikern der Weltliteratur“ (pro Klassiker eine Comicseite) haben sie unter anderem Isabel Kreitz, Nicolas Mahler und Reinhard Kleist verpflichtet, beim selben Projekt mit „100 Greatest Hits“ (pro Song eine Seite mit neun Panels) war auch Mawil mit Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ dabei. Aktuell hat das Verlegertrio einen lesenswerten Band mit Comic-Künstlern aus der Ukraine aus dem Boden gestampft, die ideale Möglichkeit, lauter extrem unterschiedlich arbeitende Zeichner kennenzulernen. Wer sagt, dass Comics immer teuer sein müssen?
Tipp 5: Heute schon an morgen denken
Weihnachten ist eine einzige Tradition, nicht wahr? Und Geschenkesuchen auch, oder? Machen Sie sich's leicht: Starten Sie mit einer Serie, denn mit etwas Glück haben Sie damit auch schon das passende Geschenk für 2024 ff. Sollte freilich nicht zu gängig sein: „Asterix“, „Peanuts“ und „Prinz Eisenherz“ scheiden daher aus. Aber wie wäre es mit dem klassischen Detektiv-Comic „Rip Kirby“? 14 Bände gibt's bereits, jeder versammelt zwei Jahrgänge meisterhafter Zeitungscomics. Oder, im selben Verlag: „Cisco Kid“, der Cowboy mit dem kompliziertest zu zeichnenden Hemd (siehe Bild)? Für Sportfans: „Ping Pong“ von Taiyo Matsumoto (Band 3 ist frisch raus). „Esthers Tagebücher“ umfassen inzwischen sieben Bände, mit denen gerade Eltern jeweils passgenau und kinderaltersgerecht (10-16 Jahre) beschenkt werden können, vom selben Autor ist man auch mit dem „Araber von morgen“ sechs Bände lang gut versorgt. Oder Will Eisners zwar berühmte, dennoch gar nicht so weitgelesene Spirit-Serie (24 Bände in der Archiv-Ausgabe). Oder „Usagi Yojimbo“, die mal bewegenden, mal actiongeladenen Abenteuer des Samurai-Hasen Miyamoto Usagi (23 Bände auf deutsch erschienen, 15 weitere harren noch der Übersetzung) ... Man sieht: Schenken muss nicht kompliziert sein, Sie müssen nur verhindern, dass der der/die Beschenkte zwischenzeitlich selber einkauft. Und natürlich die Nicht-Comicleser dringend zum Comic bewegen, damit man sie ähnlich nachhaltig versorgen kann.
Schöne Bescherung allerseits!